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Von der heilen Welt und der verruchten Großstadt

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"Die Sünderin" mit Hildegard Knef (links) war ein Skandal; der "Schinderhannes" mit Curd Jürgens und Maria Schell ein Heimatfilm nach Carl Zuckmayers Theaterstück, und "König Salomons Diamanten" mit Stewart Granger begeisterte die Jugend. Sammlung / Foto: Walter Dörr
"Die Sünderin" mit Hildegard Knef (links) war ein Skandal; der "Schinderhannes" mit Curd Jürgens und Maria Schell ein Heimatfilm nach Carl Zuckmayers Theaterstück, und "König Salomons Diamanten" mit Stewart Granger begeisterte die Jugend. Sammlung / Foto: Walter Dörr © Walter Dörr

Vor 70 Jahren eröffnete das Alleehaus-Kino den Menschen neue Sichtweisen

2020 ist es 70 Jahre her, dass in Unterliederbach das erste und einzige Kino des Stadtteils, die "Alleehaus-Lichtspiele", eröffnet wurde. Für uns erinnert sich der in Unterliederbach aufgewachsene Walter Dörr an seine Kino-Erlebnisse - vom Hohnsteiner Kasper bis zum "Mädchen Rosemarie".

Das ist ein Kino, erklärte mein Großvater, als ich mit ihm die ausgestellten Fotos betrachtete. Mit meinen sechs Jahren war das Neuland, das es zu entdecken galt. Es war im Januar 1950, als ein Herr Bechthold nahe der Wasgaustraße, Ecke Königsteiner Straße, im wiederaufgebauten Vereinshaus ein Lichtspieltheater eröffnete. Dort wurden früher - schon seit der Wende zum vorigen Jahrhundert - rauschende Feste gefeiert. Man tanzte Walzer, Polka, Rheinländer und sogar die "Française", erzählte mir später meine Großmutter. Als dann im Alleehaus-Kino die große weite Welt über die Leinwand flimmerte, war man in Unterliederbach bestens informiert, was der Rest der Menschheit außerhalb des Orts so zustande brachte.

Mein erstes Kino-Erlebnis war allerdings enttäuschend: ein Schwarz-Weiß-Film mit dem Titel "Der Hohnsteiner Kasper". In der gut besuchten Kindervorstellung sonntags um 14 Uhr war kein Kinderlärm zu vernehmen. Der sehr alte Film war in ein trübes Licht getaucht, dunkel ausgeleuchtet. So kam kein Lachen zustande; es hatte eher etwas Unheimliches, Beängstigendes. Ich war enttäuscht - da gehe ich nicht mehr hin, verkündete ich zu Hause, wo man das Gegenteil erwartet hatte.

Da wir auf der oberen Königsteiner Straße wohnten, ging meine Mutter jeden Morgen einkaufen in die zentral gelegenen Geschäfte um das Alleehaus-Kino herum und sah also, was gespielt wurde. So sagte sie eines Tages: Geh heute mal ins Kino, da kommt ein Farbfilm mit Marika Rökk. Irgendwie bekam ich das Eintrittsgeld zusammen und machte mich auf den Weg. Es war ja keine Kindervorstellung, sondern normales Abendprogramm, und ab sechs Jahren durften Kinder in die Vorstellung um 18 Uhr. Ich war schon stolz, so unter Erwachsenen zu sitzen und dachte: Die halten mich vielleicht schon für acht Jahre. Mein Geld reichte nicht für ein gedrucktes Filmprogramm, aber wohl für eine Rolle Drops vom Automaten am Eingang, zwischen den beiden Türen.

Mit der ganzen Klasse in "Bambi"

Der Film hieß "Kind der Donau" und war von 1949. Dass Marika Rökk da viel tanzte, war klar, aber auch die wunderbare Landschaft an der Donau - fabelhaft. Wahrscheinlich war die Handlung uninteressant für mich, aber: Ich sah den ersten Filmkuss meines Lebens! Ja, gibt's denn so was . . . Und am Ende des Films stand ein Happy End. Ich war begeistert; noch ganz benommen ging ich durch die einsetzende Dunkelheit nach Hause. Ich war in den fünfziger Jahren in jedem neuen Film mit der Rökk - ob sie nun küsste oder nicht. Auch die Unterliederbacher Volksschule verschloss sich der neuen örtlichen Errungenschaft nicht. 1951 pilgerten die Klassen geschlossen zu einer Sondervorstellung am Vormittag: "Bambi" hieß der Film, das Meisterwerk von Walt Disney. Es bildete sich eine 30 Meter lange Schlange bis in die Wasgaustraße zum Textilhaus Pfleger. Man sah, dass auch das Lehrerkollegium seinen Spaß am Kinobesuch hatte.

Ein Jahr später ging es, wieder geschlossen, in "Die Kinder von Mara-Mara" -diesmal kein Zeichentrickfilm, aber auch ein Streifen aus den USA, deutsch synchronisiert. Die Stimme des jungen Hauptdarstellers gehörte Horst Buchholz; bekannt wurde er erst ein paar Jahre später: Sein Film "Die Halbstarken" war 1957 ein Riesenerfolg und ließ die Kinokassen klingeln.

Etwas Besonderes war im Alleehaus-Kino der Eingang in den Zuschauerraum: Er war direkt vorne neben der Leinwand. Und da die Sitzplätze nach hinten aufstiegen, sah man genau, wer kam: Ach, Frau Müller hat ein neues Kleid, aber sie müsste mal wieder zum, Friseur - oh, Herr Schmidt hat eine neue Freundin, die ist doch viel älter als er . . . Die Kinobesucher sahen nicht nur den Film, sondern erfuhren auch das Neueste aus Unterliederbach. Mich störte das nicht - ich sollte nur den Film sehen, etwa "König Salomons Diamanten" oder "Der Hauptmann von Kastilien", also richtig spannende Abenteuer. Ab und zu gab es auch Dokumentationen mit Urwald und wilden Tieren; wurde Lustiges gezeigt wie "Abbott & Costello treffen den Unsichtbaren", war der Saal brechend voll. Und das alles für 60 Pfennige!

Mitte der fünfziger Jahre kam in den ersten Familien ein neues Phänomen auf: der Fernseher. Um diese Zeit war das aber noch nicht so schlimm für die Kino-Branche. Was war schon so ein kleines, schwarz-weißes Bild gegen die Riesenleinwand in Farbe? Außerdem: Wer konnte sich so ein Gerät überhaupt leisten? Es kostete mehr als einen Monatslohn für einen normalen Arbeiter. So blieb der Kinobesuch bis in die sechziger Jahre die beliebteste Freizeitgestaltung. Die Nachkriegszeit war geprägt von Heimatfilmen, Lustspielen mit beliebten Komikern und Schlager-Filmen. Kaiserin Elisabeth von Österreich wurde gleich in drei Teilen als "Sissi" vermarktet, mit Romy Schneider in der Titelrolle - heute sind das Weihnachts-Klassiker. Natürlich gab es auch Problemfilme, aber wenn, dann bitte mit Maria Schell, möglichst zusammen mit O.W. Fischer. Keine konnte so schön flennen wie die Schell . . .

Ab welchem Alter ein Film freigegeben war, das regelte die "Freiwillige Selbstkontrolle", fünf Herrschaften aus Politik und Kirche. Da kam der Film "Die Sünderin" 1952 gerade recht: nur für Erwachsene! Die Kirchen mahnten ihre Schäfchen, zu einem so verwerflichen Kunstgenuss auf Abstand zu gehen. Was war da zu sehen? Aus zehn Metern Entfernung eine nackte Hildegard Knef mit angewinkeltem Bein als Aktmodell für einen Maler, das ganze zwei Sekunden lang - das ging gegen alle Moral. Die Folge dieses Urteils: ausverkaufte Vorstellungen.

Nadja Tiller als das "Mädchen Rosemarie"

Im Alleehaus-Kino gab es auch Spätvorstellungen, meist mit ausländischen Filmen, oft halb Krimi, halb Erotik - allerdings völlig harmloses Material in Schwarz-Weiß. Aber als dann 1956 die Frankfurter Prostituierte Rosemarie Nitribitt ermordet wurde und ein Jahr später der Film "Das Mädchen Rosemarie" mit Nadja Tiller in der Hauptrolle in die Kinos kam, hatte der Klerus wieder alle Hände voll zu tun, um gegen die Unmoral anzukämpfen - obwohl es ein zeitkritischer, fast poetischer Film ohne nackte Haut war.

Es war ungefähr 1958, als eine Umgestaltung der Leinwand-Bühne im Alleehaus stattfand; sie wurde vergrößert und war nun auch für Breitwandfilme geeignet. Dieses neue Format startete in den USA bereits 1953 mit dem Jesus-Film "Das Gewand" mit Richard Burton und Jean Simmons in den Hauptrollen, der heute auch hin und wieder zu Weihnachten im Fernsehen gezeigt wird. Mit dem Breitwandformat wurde der Filmgenuss im Alleehaus vollends zum Erlebnis.

Das Wirtschaftswunder zog an, immer mehr Menschen leisteten sich einen Fernseher, und ab Mitte der sechziger Jahre wurde das Ende der kleinen Kinos in den Stadtteilen eingeläutet. Es gab schon bald drei Programme, man war übersättigt durch zu viele Medien. Im Alleehaus war nun von den rund 300 Plätzen manchmal nur ein Dutzend besetzt. Das war rein finanziell für den Kinobetreiber nicht durchzuhalten. Mein letzter Film im Alleehaus war 1967 "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" mit Liz Taylor und Richard Burton.

Aus dem Alleehaus wurde ein Supermarkt und später ein Matratzengeschäft - gute Nacht, Stadtteilkino!

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