Was Kinder auf dem Friedhof wissen wollen: „Liegt da jetzt der ganze Mensch drin?“

Ailke Jockers geht mit Jungen und Mädchen über den Frankfurter Hauptfriedhof und beantwortet ihre Fragen zum Thema Tod und Sterben.
Frankfurt -Ein Friedhof wäre nicht unbedingt die erste Adresse für einen Ferienausflug, mag man meinen. Doch wer mit Ailke Jockers eine Kinderführung über den Hauptfriedhof unternimmt, erlebt ebenso spannende wie berührende eineinhalb Stunden. Jockers ist Friedhofsgärtnerin und sie pflegt unzählige Gräber auf dem Hauptfriedhof. Die Kinderführungen an einen Ort, der von den meisten - auch Erwachsenen - gern gemieden wird, sind ihr ein Anliegen. Während sie mit den Kindern Schwellenängste abbaut, gelingt die Führung zu einer Unterrichtseinheit, die vielfältiger nicht sein könnte: Mathematik, Deutsch, Architektur, Botanik, Medizin, Geographie, Stadtgeschichte, Typographie. Dabei mutet keine Minute dieses Erlebnisses wie Schulunterricht an.
„Fast wie ein Wohnzimmer“
Acht Kinder der Ferienbetreuung KiBiz und ihre Betreuerinnen sind dieses Mal Jockers Gäste. Viele von ihnen waren schon einmal auf einem Friedhof, weil jemand gestorben ist: traurige Erinnerungen. Dabei ist der 1828 gegründete Hauptfriedhof an sich eigentlich ein schöner Ort, finden die Betreuerinnen. Für sie ist es ein Park, in dem sie gerne spazieren gehen. Auf 70 Hektar - also 98 Fußballfelder groß, wie die Kinder ausrechnen - gibt es dort nicht nur die Pflanzfolge zu beobachten, die mit den Stiefmütterchen beginnt, sondern auch architektonische Kunstwerke, Eichhörnchen, Vögel und sogar Füchse. Jockers steigt mit Fakten und Fragen ein. Die Kinder kennen den Unterschied zwischen Erd- und Urnengräbern. Ansonsten erste Assoziation: Knochen.
Die Kinder pressen ihre Nasen an die Scheibe der Tür einer der beiden Roma-Grabstätten und staunen über die Inneneinrichtung des massiven kleinen Gebäudes: Schränkchen und Sessel, „fast wie ein Wohnzimmer“, finden sie. Unter der Bodenplatte ruhen die Verblichenen. Was ist, wenn ein solches monumentales Grabmal in Gebäudeform abläuft? Dann müsste die Stadt das Bauwerk entfernen. Bei aller Pietät denken die Kinder praktisch: Man könne ja etwas anderes daraus machen. Einen Kiosk oder ein Toilettenhäuschen. Und schon sind sie mittendrin im unverkrampften Umgang mit einem Thema, an das sie sich Minuten zuvor noch nicht so recht rangetraut hatten. Jetzt schon: Ob auch Menschen, die ermordet wurden, auf dem Friedhof beerdigt werden. „Ja, natürlich“, erklärt Jockers.
Ein paar Schritte weiter lesen die Kinder auf einem Grabstein Walter Wallmann (1932-2013) und errechnen, wie alt er geworden ist. Er habe sich als Oberbürgermeister für Museen in der Stadt eingesetzt, erzählt Jocker. Aber das steht leider nicht auf dem Grabstein, bedauern die Kinder. Man merkt, dass sie sich wünschten, zu wissen, wer die Menschen waren, die da ruhen.
Hauptlehrer und Flugpioniere
Die Kinder suchen nach Hinweisen. Sie freuen sich über Zusätze wie „Hauptlehrer“ oder „Flugpionier“. Sie versuchen von Schriftarten abzuleiten, um was für einen Menschen es sich gehandelt haben könnte: Eine Schrift sieht für die Kinder aus, als hätte derjenige beim Fußball einen Pokal gewonnen.
An einem frischen Grab wird es still: „Liegt da jetzt der ganze Mensch drin? Auch die Augen?“, möchte ein Junge wissen. „Ja, es sei denn, er hat sie gespendet“, erwidert Jockers und sorgt für Verwirrung: Gespendet? Die Kinder hören zum ersten Mal von der Möglichkeit der Organspende. Die Vorstellung, ohne Augen, Leber, Herz oder Nieren beerdigt zu werden, bereitet ihnen jedoch offensichtlich Unbehagen.
Man wisse nie, welche Fragen von den Kindern kommen, so Jockers. Schulklassen, die sich im Unterricht mit Tod und Sterben befasst hätten, fragten anders als Gruppen, in denen Kinder gerade den Opa oder die Oma verloren haben. Einmal habe eine Schulklasse unbedingt zu den Kinder- und Kriegsgräbern gehen wollen, und sie habe nicht verstanden, warum, so Jockers. Dort angekommen, packten die Kinder Steine aus, die sie für die Toten bemalt hatten und ablegen wollten. Jockers war gerührt.
Die KiBiz-Kinder staunen, was Menschen alles an Gräbern ablegen, außer Blumen: kleine Engel und Figuren, Ostergestecke, Kuscheltiere und Pokale, Flaschen und Figürchen und „sogar Zigaretten, wenn der Verstorbene Raucher war“.
Jockers zieht geschickt thematische Verbindungsfäden. Wenn sie das nächste Mal mit der U 5 führen und an der Konstabler ausstiegen, sollten sie mal die Wände betrachten, dann könnten sie sehen, was er gemalt und gezeichnet habe, so Jockers am Grab von Ferry Ahrlé. An der Grabstätte der Bethmanns kommt sie natürlich auf die Marzipan-Bethmännchen zu sprechen. Und Pauline Schmidt (1840-1856) lernen die Kinder als Namensvorbild für das Feuerpaulinchen im Struwwelpeter kennen.
An diesem Morgen haben sie gelernt, dass auf dem Friedhof Frankfurter Geschichte und Geschichten zu finden sind und Schicksale, die berühren, wie ein Mädchen sagt: „Ich habe vorhin ein Kind gesehen, das ist nur zwei Jahre alt geworden. Ich glaube, daran werde ich mich am meisten erinnern.“
Kinderführungen über den Hauptfriedhof mit Ailke Jockers kann man buchen. Anfragen unter der Rufnummer (0 69) 56 14 22 oder per Mail: info@grabpflege-mueller.de .