Wenn der Krieg in Nahost in die Schulen kommt

Bildungsstätte Anne Frank sieht Konfliktpotenzial und großen Wissensbedarf auch bei Lehrkräften
Die Herbstferien sind seit gestern zu Ende, und es gibt Schüler, die aus Angst vor Konflikten auf dem Schulhof oder gar antisemitischen Attacken nicht gerne oder gar nicht in die Schule zurückkehren. „Es gibt jüdische Schüler, die sich nicht mehr trauen, zur Schule zu gehen“, berichtet Stadtschulsprecher Laurenz Aller.
Um ein größeres Stimmungsbild zu erhalten, hat diese Zeitung auch an Schulleitungen und Lehrer eine Anfrage geschickt. Fast alle haben nicht reagiert oder ein Gespräch zum Thema Nahostkonflikt, Terror und Antisemitismus und die Frage nach der eigenen Schule abgelehnt. Eine Aussagekraft darüber hinaus hat das erst einmal nicht.
Von Schülern, die die palästinensische Flagge mit auf den Schulhof gebracht hätten, berichtet hingegen Stadtschulsprecher Aller: „Eine Solidarisierung mit Palästina bedeutet ja auch nicht einfach Zustimmung zu dem, was die Hamas macht.“ Es gebe verschiedene Perspektiven und Meinungen, „gerade wir hier in Frankfurt haben viele Schüler aus unterschiedlichsten Teilen der Welt, die es zu respektieren gilt. Aber wir sollten nicht respektieren, wenn Menschen die Taten der Hamas billigen oder herunterreden wollen.“ Schon gar nicht dürfe es sein, dass jüdische Schüler sich auch deshalb in der Schule unwohl fühlten. Lehrkräfte aber hätten Angst, Schüler mit extremen Meinungen zu korrigieren, so Allers Einschätzung.
„Juden sind stärker gefährdet“
Dass es Unsicherheit aufseiten der Lehrkräfte gibt, schlägt sich bei der Bildungsstätte Anne Frank nieder. „Uns erreichen aktuell aus ganz Hessen täglich meist mehr als hundert Anfragen für Online-Fortbildungen zum Thema Nahostkonflikt.“ Im Gegensatz zu einer allgemein formulierten Handreichung des Hessischen Kultusministeriums hat die Bildungsstätte unmittelbar nach dem 7. Oktober zusätzliche Fortbildungen mit aktuellem Bezug angeboten: „Wie reden im Klassenzimmer über die Terroranschläge in Israel? Pädagogische Hinweise zum Umgang mit Reaktionen.“ Der Ansturm sei so groß wie noch nie.
Die Lage ist laut Bildungsstätte Anne Frank „ohne Zweifel sehr angespannt: Wir sehen viel gesellschaftlichen Sprengstoff. Juden sind einer vergleichsweise stärkeren Gefährdung ausgesetzt.“
Andererseits verstärkten Verbote pro-palästinensischer Demonstrationen und Symbole bei Menschen, die sich solidarisch mit der Zivilbevölkerung in Gaza zeigen wollen, das Gefühl, in ihrer Betroffenheit nicht gesehen und gehört zu werden. So komme es auch an Schulen gehäuft zu aufgeladenen Situationen, mit denen Lehrkräfte, Sozialarbeiter oder auch Seelsorger umgehen müssten. Es sei wichtig, im schulischen Alltag Gelegenheiten zu schaffen, in denen ein Sprechen über den Nahostkonflikt und seine vielfältigen Bezüge möglich ist, aber antisemitische oder rassistische Äußerungen nicht unkommentiert bleiben.
Etwas, was die Walter-Kolb-Schule in Unterliederbach nach den Herbstferien sofort umgesetzt hat. Bei ihr steht das Thema Nahostkonflikt jetzt auf dem Unterrichtsplan, auch wenn die Lehrkräfte bislang keine Auswirkungen auf den Schulfrieden mitbekommen hätten. „Aber wir haben natürlich Bedenken, dass es sich auswirken könnte“, so Schulleiterin Sabine Fischer. „Deshalb haben die Lehrkräfte für Politikwissenschaft ein Mini-Konzept entwickelt. In jeder Klasse wird nun über den Konflikt und den Terror gesprochen.“
Man muss Aussagen einordnen können
Es brauche vor allem mehr Wissensvermittlung, so Professor Dr. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Er fordert einen Paradigmenwechsel in der politischen Bildung. „Da ist jetzt das gesamte Bildungssystem gefragt - von der Kita an.“ Er fordert mehr Angebote mit Blick auf israelbezogenen Antisemitismus. Laut Bildungsstätte Anne Frank bräuchten viele Lehrkräfte Unterstützung darin, Kommentare und Aussagen zum Nahostkonflikt kompetent erkennen, einordnen und kontextualisieren zu können. Da gehe es sowohl um den historischen Kontext als auch um die emotionale Komponente.
Aber wie geht man denn jetzt mit Schülern um, die „Free Palestine“ rufen? Die Bildungsstätte rät: „Lehrkräfte sollten mit den Schülern darüber sprechen, sie nach ihren Beweggründen fragen und im Gespräch mit ihnen ergründen, was hinter ihrem Ausruf steckt, was sie überhaupt damit meinen. Wichtig ist immer, die Schüler nicht zu verurteilen, sondern immer Person und Aussage voneinander zu trennen. Es gilt, Gesagtes zu kontextualisieren, aber auch klarzumachen, dass die Aussage verletzend sein kann.“
Michelle Spillner