Wenn zehn Fotos einen ganzen Film ersetzen

Für die Bildreihe Albtraum im Paradies wird der Frankfurter Osthafen zur nächtlichen Kulisse
Spooky, irreal, futuristisch und gleichzeitig greifbar, nostalgisch, irritierend und echt zwischen Zukunft und Vergangenheit graben sich die Fotos vom Moritz Koch in die Köpfe der Betrachter. Auch wenn Agenten eine Leiche aus einer anderen Welt am Osthafenarm im Schutthügel vergraben. Der Fotoregisseur schafft Bilder, die mehr als Kopfkino auslösen.
Das Geheimnis um Minerva
Minerva ist Geschichte. Sie ist tot. Nicht die römische Göttin der schönen Künste, sondern das außerirdische Wesen, das auf die Erde kommt, um zu sensibilisieren. Oder auch nicht. Der Agent im schwarzen Anzug steht mit finsterem Blick hinter dem geöffneten Kofferraum des weißen, 6,23 Meter langen 1967er Fleetwood Cadillacs, ein Spaten steckt im hohen Sandberg vor gestapelten Containern. Minerva muss verschwinden an dem geheimen Ort. Geheim? Auf der anderen Seite des Hafenarms können Partyleute auf Balkons in den Gebäuden, die wie Überseecontainer konstruiert sind, auf den Sandhügel blicken. Die Agentin sitzt am Steuer. Ein Bein mit 15 Zentimeter hohen Louboutin-Stilettos auf dem unebenen Boden des Schüttgüter-Geländes, das den Blick in der Ferne auf die EZB freigibt, die in der blauen Stunde anscheinend von einer Baggerschaufel am Kranarm gefressen wird.
Die Szenen, die sich fünf Stunden lang bis in die tiefe Nacht am Containerhafen abspielen, sind keine Netflix-Serie, obwohl das Set wirkt wie eine Filmproduktion. Auf einem Hubwagen schwebt Moritz Koch und macht Fotos mit einer hochauflösenden Digitalkamera, ändert Scheinwerferlicht von oben millimeterweise, gibt Regieanweisungen über Funk. Für seine zehn-bildrige Fotoserie „Nightmare in Paradise“ - Alptraum im Paradies - lässt er Vergangenheit und Zukunft, Krimi und Realität, Widersprüche und Logik zusammenfließen und auf Fotos ineinander verschmelzen. Er trägt dunkle Hosen und einen dicken goldigen Löwenkopf als Ring.
Rauch und Licht steigt auf aus dem Kofferraum, die Partyleute gegenüber tanzen, der Agent blickt finster mit kerzengerader Haltung neben den Ersatzreifen. Alles wirkt echt. Selbst die Drohne, die wie ein Maikäfer-Heuschreckenschwarm die Fotoaufnahmen surrend begleitet, gehört irgendwie dazu zwischen Pizzakartons und Softdrinks unter weißen Pavillons.
„Sehr ironischen Kontrast“ nennt der Fotoregisseur, der nicht gern über sein junges Alter spricht, seine Werke. Er will mit seinen Bildern zum Nachdenken anregen und „Kunst für jedermann schaffen“. Zu aktuellen Themen wie Schnelligkeit, Sinnsuche, Vergänglichkeit, Klimawandel und Konflikten. Er will das Widersprüchliche. Die Leiche, die ungesehen und doch gesehen im Sandhügel verschwinden soll. Oder auch nicht.
„Es sind die Emotionen, die mich bewegen. Privat und künstlerisch“, sagt Koch, der sanft, konzentriert, fokussiert und freundlich ist, auch wenn etwas nicht so klappt, wie er es will. „Das Licht ist zu stark“, sagt er leise und wartet ab, bis es so eingestellt ist, dass kein Schatten auf den unebenen Boden scheint, der Himmel etwas dunkler ist. Bei der Kunst kennt er keinen Kompromiss. Es muss so werden, wie er es sich vorstellt.
200 Statisten auf dem Hauptfriedhof
Mit 200 Statisten ist er über den Mainzer Hauptfriedhof gezogen, hat mit Dutzenden einen Autounfall inszeniert und Straßen gesperrt, er wird noch ein Shooting im Deutschen Filmmuseum mit 75 Komparsen machen und noch 30 Oldtimer in Bischofsheim ablichten. Die Zeit drängt. Seit drei Jahren arbeitet Koch an der Idee, seit zwei Jahren arbeitet er an der extrem aufwendigen Produktion, im September stellt er seine zehn Kunstwerke in Berlin aus.
Max Wex (34) wirkt finster und böse als Agent hinter dem Caddy von Dimitri Sotiropoulos aus Mühlheim, der an der Großmarkthalle aufgewachsen ist und Oldtimer sammelt. „Ich fand die Idee toll. Da konnte ich nicht nein sagen“, sagt er zu dem Schauspieler, der in Mannheim lebt. My-Diem (37) ist eigentlich Stylistin und für das Foto Agentin. Sie wartet. Alle sind ehrenamtlich dabei, ebenso wie Aufnahmeleiterin Kyra Müller (22), die Medienmanagement in Wiesbaden studiert und Minerva, die im wahren Leben Sonja Sikora (34) heißt, Kunsthistorikerin ist und Führungen in der Schirn macht. „Da habe ich Moritz kennengelernt und war begeistert von seiner Arbeit. Klar, war ich sofort dabei.“ Minerva sitzt noch gut gelaunt in bunten Tigersocken am Set, bevor sie ein Schatten wird. Vielleicht. Minerva ist tot. Oder auch nicht. Das Kopfkino des Betrachters wird Aufschluss bringen. Auf jeden Fall in eine Zeitreise entführen, die auf zehn Fotos mehr zeigt, als ein ganzer Film.