Interview mit Psychiatrie-Direktor der Uniklinik Frankfurt: „Wir haben einen Notstand“

Psychisch schwerkranke Menschen sind in Deutschland unterversorgt. In Hessen ist die Lage besonders ernst. Während andere Bundesländer Netzwerke zur Betreuung geknüpft haben, bleiben hierzulande die meisten Patienten fern der Kliniken allein. „Das muss sich dringend ändern“, sagt Professor Dr. Andreas Reif von der Uniklinik Frankfurt. Mit ihm sprach FNP-Mitarbeiter Mark Obert.
Herr Professor Reif, warum geht es einem psychisch Erkrankten in allen anderen Bundesländern besser als in Hessen?
ANDREAS REIF: Beiden Patienten geht es natürlich nicht gut, weil sie akut krank sind. Aber in Hessen ist die Versorgung schlechter. Alle anderen Bundesländer haben sogenannte Psychisch-Kranke-Hilfe-Gesetze, die die zwangsweise Unterbringung Schwerstkranker in der Psychiatrie regeln, aber darüber hinaus auch die Vor- und Nachsorge außerhalb der Klinik garantieren – mit einem Netzwerk aus gemeindepsychiatrischen und sozialpsychiatrischen Diensten.
Das es in Hessen nicht gibt.
REIF: Leider. Deswegen fordern wir ja seit langem dieses Gesetz auch in Hessen. Immerhin hat das Sozialministerium für Herbst eine Gesetzesvorlage in Aussicht gestellt. Ich bin da hoffnungsfroh.
Das Thema sei sehr kompliziert, heißt es aus dem Ministerium.
REIF: Was mich verwundert. Wir haben in 15 Bundesländern Beispiele dafür, wie es gut laufen kann.
In Hessen gibt es für akut Erkrankte nur das Freiheitsentziehungsgesetz von 1952.
REIF: Und darin geht es eigentlich nicht um den Patienten, sondern nur darum, inwieweit jemand, der eine Gefahr für sich selbst oder die Allgemeinheit darstellt, gegen seinen Willen in eine Klinik gebracht werden darf. Für diesen per Gesetz geregelten Vorgang sind Ordnungsamt und Polizei zuständig – das ist in allen Bundesländern so.
Sehr viel Verantwortung für einen Polizisten.
REIF: Stimmt. Es wäre wünschenswert, wenn bei dieser Entscheidung mehr medizinischer Sachverstand eingebunden wäre, aber in Hessen ist das nach dem Freiheitsentziehungsgesetz nicht vorgesehen. In dichten Netzwerken, wie sie andere Bundesländer haben, kommt das fachliche Urteil stärker zum Tragen. Aber ich will nicht auf die Polizei schimpfen. Die macht das schon sehr gut. Praktisch sieht das dann so aus: Wenn ein Mensch auffällig geworden ist, prüft der Polizist die Situation und muss entscheiden, ob der Mensch möglicherweise psychisch krank ist. Wenn er so entscheidet, bringt er ihn in die Klinik. Diese Zwangsunterbringung gilt erst einmal nur für einen Tag, so in etwa ist das auch im Rest Deutschlands.
Und danach?
REIF: Wenn der Patient nach einem Tag gegen den fachlichen Rat des Psychiaters nach Hause will, muss der Richter entscheiden. Auch das ist überall in Deutschland gleich. Im Falle, dass der Richter den Patienten gehen lässt, können sich in anderen Bundesländern dann die Netzwerke kümmern. Der hessische Patient bleibt allein. Genauso verhält es sich auch mit Patienten, die längere Zeit bei uns waren und die dann entlassen werden, weil die Erkrankung nicht mehr akut ist. In all diesen Fällen machen sich die Unterschiede in Hessen und anderen Bundesländern deutlich bemerkbar.
Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
REIF: In Hessen ist es so: Ein Patient mit paranoider Schizophrenie kommt in eine Klinik – zwangsweise, weil er keine Krankeneinsicht hat.
Was ja in der Natur vieler Psychosen liegt.
REIF: Genau. Dieser Patient also wird mit Antipsychotika behandelt. Nach einigen Tagen ist er wieder soweit beisammen, dass er die Behandlung abbricht und man ihn auch nach Hause lassen muss. Dort sieht er dann wochenlang keinen Arzt, setzt eigenmächtig die Medikamente ab, bekommt wieder einen Rückfall, wird wieder in die Klinik eingeliefert – und das ganze geht von vorne los. Für den Patienten ist das auf Dauer eine Qual.
Soweit die hessische Variante.
REIF: In allen anderen Bundesländern kann das Versorgungsnetzwerk eingreifen. Durch regelmäßige ambulante Hilfe könnte sogar ein Vertrauensverhältnis entstehen, ein Psychiater könnte bei Hausbesuchen je nach Krankheitslage die Medikamente einstellen . . .
Er könnte oder er kann?
REIF: Solche niedrigschwelligen Angebote werden nicht von allen Patienten angenommen. Man erreicht nur die, die im System drin sind. Aber die Erfahrung zeigt: Wo es diese Netzwerke und guten Angebote gibt, ist die Zahl der Zwangsaufnahmen stark zurückgegangen, weil man sie mit guter Prophylaxe abbiegen kann. Und darum geht es uns doch in erster Linie: Dass die Menschen möglichst lange außerhalb der Klinik bleiben können und dabei nicht ins Bodenlose fallen. Dafür brauchen wir das Hilfe-Psyche-Kranken-Gesetz.
Das es ja in anderen Bundesländern nicht erst seit gestern gibt.
REIF: Dort sind im Zuge der Psychiatrie-Reform vor 40 Jahren sehr bald Auflagen für eine gute Nachsorge und damit automatisch auch für eine Vorsorge gemacht worden. Die sozialpsychiatrischen Dienste haben stärkere Behandlungskompetenzen erhalten. Und es gibt Kommissionen, die sich, falls erforderlich, um die Unterbringungmodalitäten dieser Patienten kümmern.
Die sozialpsychiatrischen Dienste in Hessen leisten davon gar nichts?
REIF: Die tun ihr Bestes, aber die brauchen viel mehr Mittel und Personal – und Befugnisse. Nirgends ist die Unterversorgung psychisch Schwerstkranker so dramatisch wie in Frankfurt und besonders in der Fläche Hessens. In der Provinz haben sie einen Sozialarbeiter für einen ganzen Landkreis. Schätzungen gehen davon aus, dass im Zuge eines in der Praxis wirkungsvollen Psychisch-Kranke-Hilfe-Gesetzes in Hessen 3,5 Millionen Euro investiert werden müssten.
Deutschlandweit mangelt es zudem an niedergelassenen Psychiatern. Könnte man mit dem neuen Gesetz auch diese Versorgungslücke schließen?
REIF: Schließen nicht, aber zumindest die dramatische Entwicklung etwas abbremsen. In Hanau gibt es nur noch einen niedergelassenen Psychiater in der Regelversorgung, in Frankfurt werden es immer weniger. Die sich zur Ruhe setzen, finden keine Nachfolger für ihre Praxen, der Nachwuchs fehlt. Wir haben einen richtigen Notstand. Und wenn dann ein schwerstkranker Patient Hilfe beim Psychotherapeuten sucht, weil er gar nicht weiß, wohin er soll, wartet er bis zu vier Monate auf einen Termin. Wenn er stark depressiv ist, hat er sich bis dahin vielleicht schon suizidiert.
Warum gibt es immer weniger Psychiater? Liegt das am schlechteren Verdienst?
REIF: Ich weiß es nicht. Mit der Apparatemedizin lässt sich aber fraglos mehr Geld verdienen als in der sprechenden Medizin.
Nimmt die Zahl der Erkrankten zu oder nicht? Es gibt da unterschiedliche Lesarten der Statistiken.
REIF: Die Erkrankungen nehmen nicht zu. Die Erkennungen nehmen zu. Das sind ausnahmsweise mal zwei gute Nachrichten, die übrigens auch mit den Netzwerken zu tun haben.
Sie wollen ja mit dem neuen Gesetz auch dazu beitragen, psychisch Kranke zu entstigmatisieren. Wie soll das gehen?
REIF: Durch verbreitete ambulante Arbeit am Patienten würde auch dem Umfeld klar: Hier ist einer, der einen Arzt braucht, der Medikamente braucht. In der Gesellschaft sind ja immer noch ganz falsche Vorstellungen und Vorurteile verbreitet. Zum Beispiel, dass viele Psychotiker die Allgemeinheit gefährden, sogar gefährlich sind. In Deutschland leiden vier Millionen Menschen an Depression, eine Million an Bipolaren Störungen, eine Million an schizophrenen Psychosen. Nicht einmal ein Promille dieser Menschen stellt eine Gefährdung für andere dar.
Aber bei Kapitalverbrechen müssen immer häufiger psychiatrische Sachverständige darüber entscheiden, ob ein Täter überhaupt schuldfähig ist.
REIF: Trotzdem betrifft das eine kleine Minderheit, und für die ist die Forensik zuständig. Wir in der normalen Psychiatrie behandeln fast ausschließlich Patienten, die eine Gefahr für sich selbst darstellen oder darstellen könnten. In Deutschland begehen jährlich 11 000 Menschen Suizid, fast bei allen ist das auf psychische Erkrankungen zurückzuführen. Das verdeutlicht, wie sehr diese Menschen leiden. Wir haben es eben mit schlimmen Krankheiten zu tun und nicht mit charakterschwachen, haltlosen Menschen, die faul sind und sich keine Mühe geben. So werden sie aber oft gesehen, was es dann noch schlimmer macht. Es sind auf biologische Ursachen zurückzuführende Erkrankungen, nur dass wir bislang vor allem die Symptome sehen und nicht immer die zugrunde liegenden Mechanismen. Wenn Sie so wollen, sind psychiatrische Erkrankungen wie Fieber – nur im Gehirn.
Apropos Fieber: In der Kritik an der hessischen Gesetzgebung schwingt auch immer die Kritik an der Macht der Richter mit. Man lasse ja einen Richter auch nicht über eine Grippebehandlung entscheiden, spotten Psychiater gerne.
REIF: So ist es doch auch.
Sehen Sie denn angesichts der zu verhandelnden Freiheitsrechte eines Patienten eine Alternative zur Verfügungsgewalt der Richter?
REIF: Dass über die zwangsweise Unterbringung eines Menschen ein Richter entscheidet, ist eine sinnvolle und gute Errungenschaft des Rechtsstaates, und hierzu sehe ich auch keine Alternative. Allerdings gibt es, wie immer, eine gewisse Spielbreite in der Auslegung der Gesetze. Etwas genereller gesehen: Welche Definition von Freiheit legt man zugrunde? Da gibt es zwischen Richtern und Ärzten unter Umständen starke Differenzen.
Welche?
Aus meiner Sicht entsteht der stärkste Freiheitsentzug durch die Krankheit an sich. Der Mensch ist nicht mehr wirklich selbstbestimmt, die Krankheit beherrscht ihn. Unser Ziel ist es, ihm diese Freiheit zurückzugeben. Viele Richter hingegen bewerten den vom Patienten zum Ausdruck gebrachten Willen höher und lassen Patienten gegen unseren ausdrücklichen Rat gehen.
Auch Patienten, die Ihrer Meinung nach über keinen freien Willen mehr verfügen?
REIF: Genau das ist der Konflikt – und aus medizinischer Sicht unter Umständen manchmal fatal.
Nun heißt es, in Frankfurt seien die Richter diesbezüglich besonders liberal.
REIF: So kann man das sagen. Hier wird eher der Standpunkt vertreten, dass der Mensch ein „Recht auf Krankheit“ habe. Ich sehe das anders, weil es so klingt, als könnten diese Patienten sich das aussuchen. In anderen hessischen Kommunen wird das deutlich anders gehandhabt, von anderen Bundesländern nicht zu reden.
Der Fall Mollath in Bayern hat gezeigt, wohin das führen kann.
REIF: Das ist zum Glück ein seltenes Beispiel. Grundsätzlich aber ist es eben so, dass jeder Richter entscheiden kann, wie viel Beachtung er dem psychiatrischen Gutachten schenkt. Anderswo orientieren sie sich mehr am Urteil des Mediziners, in Frankfurt weniger. Manchmal wird nur nach dem Eindruck entschieden, den man in einem einzigen Gespräch mit dem Patienten gewonnen hat, auf das Urteil des Arztes wird nicht gehört. Man muss es doch klar sehen: Die Menschen sind bei uns, weil sie erkrankt sind. Manche Richter tun gerade so, als wäre es umgekehrt. Ich kann nicht verstehen, wo diese Vorbehalte gegen die Psychiatrie herrühren.
Die sind in der Bevölkerung tief verankert. Man hört und liest ja schon oft von gesunden Menschen, die jahrelang wegen falscher Diagnosen eingeschlossen waren und mit Tabletten vollgepumpt worden sind.
REIF: Es werden Fehler gemacht, und es gibt tatsächlich auch skurrile Vertreter unseres Fachs. Aber das sind glücklicherweise Ausnahmen, trotz einer immer größer werdenden Arbeitsbelastung bei sinkenden Ressourcen.
Müssten Sie nicht auch an der eigenen Entstigmatisierung arbeiten?
REIF: Da ist was dran. Ich kann dazu auch nur ganz klar sagen, dass aus diesen Fehlern gelernt wird und vieles besser geworden ist. Letztlich kann man sicher sein, dass hier Ärzte und Pfleger arbeiten, die den Menschen helfen wollen.
Woran erkennen Sie, ob jemand suizidgefährdet ist?
REIF: Da gibt es ganz harte Indikatoren: die Erkrankung selbst, die familiäre Vorgeschichte, die Frage nach dem sozialen Netz. Und dann natürlich die Erfahrung. Wenn man nach 15 Jahren Tätigkeit bei einem Patienten ein ungutes Gefühl hat, sollte man dem nachgehen. Gerade deshalb brauchen wir hier in Hessen dieses neue Gesetz. Damit die Menschen, die wir nicht behandeln dürfen, aufgefangen werden.
Haben sich Patienten nach der von einem Richter verfügten Entlassung umgebracht?
REIF: Das ist vorgekommen.