Wo Tote wie Abfall auf der Straße liegen

IGS Süd-Schüler bekommen Einblick in den Alltag im KZ Auschwitz.
„In Auschwitz gab es keine Vögel. Ich weiß nicht, was sie vertrieben hat.“ Mit diesen Worten beginnt eine Konzertlesung, mit der die Journalistin und Autorin Monika Held und der Kontrabassist Georg Praml seit 2019 durch Schulen und Kirchengemeinden touren, um ihren Zuhörern die Gräueltaten der Nationalsozialisten und die Folgen, die diese für die Überlebenden des Vernichtungslagers hatten, näher zu bringen.
Im Unterricht „Andorra“ gelesen
Das Schicksal des Wieners Hermann Reineck, der als Kommunist und Kopf einer Widerstandsgruppe 1942 mit dem Vermerk „Rückkehr unerwünscht“ in das Konzentrationslager (KZ) auf polnischem Terrain gebracht wurde und dort mehr als zwei Jahre verbringen, 792 Tage überleben sollte, diente Held als Vorlage für ihren Roman „Der Schrecken verliert sich vor Ort“, aus dem sie Auszüge liest. Der 1995 verstorbene Zeitzeuge ist als Tonbandstimme zu hören.
Es ist mucksmäuschenstill in der Turnhalle der alten Holbeinschule, als das Duo mit seinem Vortrag beginnt. Die Zehntklässler der IGS Süd sitzen schweigend in einem Halbkreis auf ihren Stühlen, wenig rührt sich in dem kalten, unbeheizten Saal.
Im Deutschunterricht haben sie sich mit dem Thema bereits beschäftigt. Sie haben „Andorra“ von Max Frisch gelesen, dieses Drama um den jungen Andri, der aufgrund seiner vermeintlich jüdischen Abstammung von der Gesellschaft ausgeschlossen und ermordet wird. Sie haben Teile davon selbst inszeniert und Bezüge zu den historischen Ereignissen vor acht Jahrzehnten hergestellt, aber auch zur eigenen Umwelt.
Am Morgen vor dem heutigen Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee sollen die Erfahrungen aus erster Hand und ihre Verarbeitung die Schülerinnen und Schüler mit einzelnen Schicksalen verbinden, die nackten Zahlen von Ermordeten und Überlebenden der Folterungen und Quälereien, die die KZ-Insassen zu erleiden hatten, um Bilder und Emotionen ergänzen.
„Ein Ort, an dem man jeden Tag und jeden Augenblick sterben kann“, heißt es in dem 70-minütigen Stück über Auschwitz. „Ein Ort, an dem die Toten wie Abfall auf der Straße liegen.“ Wo 16 Menschen gleichzeitig rund um die Uhr Todesmeldungen schreiben, 800 bis 1000 in einer Schicht, sich aus einer Liste Krankheiten wählen, wo doch Mord oder Hunger die Ursachen waren, und wo finale Meldungen bereits verfasst werden, wenn die Betroffenen noch leben. Das alles für jene, denen eine Nummer zugewiesen wird. Die Mehrheit, die gleich bei der Ankunft aussortiert und in den Tod geschickt wird, verschwindet unregistriert, als hätte es sie nie gegeben.
Das Trauma als Lebensbegleiter
Praml unterlegt die Erinnerungen mit brummenden Tönen, mit dramatisierenden Schlägen, mit Quietschen und Kreischen. Gänsehaut entsteht.
Die Schrecken sind für die Betroffenen mit ihrer Befreiung nicht abgeschlossen. Die Traumata verfolgen sie in ihren Träumen, die Ängste werden wieder spürbar, wenn sie im Auschwitz-Prozess aussagen, bleiben ständiger Begleiter ihres Lebens. Und doch, so hat es Reineck immer wieder betont, „darf über Auschwitz kein Gras wachsen“, muss erzählt werden davon. Er selbst verstand das als seine Mission. So etwas dürfe nie wieder passieren.
„Ihr meint vielleicht, das ist eine alte Geschichte“, sagt Praml am Ende. Aber es gebe auch heute wieder Tendenzen in diese Richtung, Rechtsradikalismus, Rassismus, Ausgrenzung. Der Künstler fordert die Teenager auf, aufeinander aufzupassen.
Fragen gibt es nicht. Nach einer Mittagspause sollen die Schülerinnen und Schüler das Gehörte reflektieren. „Berührend“ sei es für sie gewesen, sagt die 16-jährige Nora. „Ich kenne die Geschichte, aber ich habe vorher noch nie die Stimme von jemandem gehört, der das selbst erlebt hat.“
Vladlena Zeller, die als Fachbereichsleiterin Deutsch die Begegnung initiiert hatte, plant, diese in gleicher oder ähnlicher Form zu einer Dauereinrichtung werden zu lassen. Die Zeitzeugen sterben aus. Ihr Wissen soll weitergetragen werden. Katja Sturm