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Zwei junge Frauen erzählen, wie sie Magersucht und Bulemie überwunden haben

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Eine junge Frau mit einem Zentimetermaß um den Bauch. Wenn das Thema Essen den Tag bestimmt, braucht man dringend Hilfe.
Eine junge Frau mit einem Zentimetermaß um den Bauch. Wenn das Thema Essen den Tag bestimmt, braucht man dringend Hilfe. © Jens Kalaene (dpa-Zentralbild)

Elena (22) und Aisha (37, beide Namen geändert) sind erfolgreiche junge Frauen. Doch beide hatten ein dunkles Geheimnis: Elena litt jahrelang an Magersucht, Aisha an Bulimie. Erst eine Selbsthilfegruppe half ihnen, der Krankheit zu entkommen.

Elena war kein glückliches Kind. „Ich habe mich schon im Kindergarten wie ein Außenseiter gefühlt“, sagt sie, eigentlich wäre sie immer lieber ihre beste Freundin gewesen als sie selbst. Ein großes Problem sei das aber nie gewesen, sagt die heute 22-Jährige.

Bis sie am Beginn der Pubertät ein paar Kilo zunimmt – und zufällig das Wort „Heilfastenkur“ aufschnappt. „Ich wusste, wenn ich meinen Eltern sage, ich mache Diät, bekomme ich Probleme.“ Aber Heilfasten ist bei knapp 60 Kilo Körpergewicht irgendwie okay. Acht Kilo nimmt Elena ab, sie fängt an, mehr Sport zu machen, bekommt Lob. „Das erste halbe Jahr war ein Gewinn.“

Doch nach und nach isst sie immer weniger. Schon beim Aufwachen fragt sie sich, wie sie ums Essen herumkommt, nach dem Essen, wie viel Sport sie machen muss, um die Kalorien wieder los zu werden. Ständig vergleicht sie sich und ihren Körper mit anderen. Wenn sie hungert, hat sie das Gefühl, die Kontrolle über ihr Leben zu haben. „Es war beruhigend.“

Leute anlügen

Doch irgendwie stört es sie auch, dass sie sich so viel mit Essen beschäftigt. „Ich musste ja auch ständig Leute anlügen, das war anstrengend.“ Elena nimmt sich vor, wieder normal zu essen, geht einmal pro Woche zur Therapie. „Aber die Angst war stärker. Ich wollte lieber mein Gewicht behalten als gesund zu werden.“

Als sie nur noch 40 Kilo wiegt, kommt sie in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zehn Wochen lang wird sie bei jedem Schritt und jeder Mahlzeit begleitet, schließlich mit 47 Kilo nach Hause entlassen. „Danach habe ich mir geschworen: Das passiert mir nie wieder. Ich bin sehr ambitioniert.“ Eineinhalb Jahre später wiegt sie wieder 40 Kilo. „Das war der Moment, in dem ich erkennen konnte: Die Krankheit hat über mich gewonnen.“

Auch Aishas Start ins Leben ist schwierig, ihre Mutter ist schwer krank. „Ich habe früh gelernt, was Rücksichtnahme bedeutet“, sagt sie. Nur wenn sie isst, kann sie abschalten. „Ich habe das genutzt um mich zu entspannen, es heimelig zu machen.“ An manchen Tagen wacht sie morgens auf und denkt: Der Tag heute wird ätzend, aber heute Abend darfst du wieder.

Kein Selbstwertgefühl

In der Pubertät kommen auch bei ihr die Gewichtsprobleme. „Ich entwickelte eine Strategie: Ich kann essen, was ich will, und danach werde ich es wieder los.“ Denn wenn sie schlank ist, glaubt sie, wird ihr Leben wunderbar werden. „Aber selbst als ich einen Freund hatte, hat sich an meinem schlechten Selbstwertgefühl nichts geändert.“

Dann kommt bei ihrer Mutter der Krebs zurück, sie muss gepflegt werden. Der Vater ist berufstätig, die Schwester in der Schule, Aisha selbst studiert. Sie braucht etwas, um die Spannung abzubauen, unter der sie jeden Tag steht. Also isst sie. Und erbricht. Nimmt zu, macht Diät und exzessiv Sport, nimmt wieder ab, der Jojo-Effekt setzt ein, sie nimmt wieder zu. Erbricht sich noch häufiger. Ein Teufelskreis.

Gleichzeitig weiß Aisha, dass sie ein Problem hat. Sie findet heraus, ab welcher Erbrechenshäufigkeit man von Bulimie spricht – und macht akribisch Kreuzchen in ihren Kalender. Als ihr klar wird, dass sie zur Bulimie auch noch eine Kontrollsucht entwickelt, macht sie eine Therapie. „Danach habe ich nicht mehr erbrochen, aber das Essen immer noch zur Entspannung genutzt.“

Im Internet stößt sie auf die Selbsthilfegruppe „Overeaters Anonymus“ (OA) und geht zu einem der Frankfurter Treffen. „Ich fand das krass, was die Leute da erzählt haben“, sagt sie. Andererseits fühlt sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben verstanden. „Für meine Familie war ich ja die, die immer funktioniert.“

Doch immer wieder geht es in der Gruppe um Esspläne, mit denen die Mitglieder sich dazu bringen, regelmäßig zu essen. „Das wollte ich nicht, weil das hat mich an meine ganzen Diäten erinnert.“ Also macht sie erstmal weiter wie bisher. „Aber dass andere Leute mit meiner Krankheit ganz normal leben können, das hat mir Hoffnung gegeben.“

Sowohl Elena als auch Aisha sind sich heute sicher: Erst wenn man erkannt hat, dass man krank ist, kann man etwas an der Situation ändern.

Elenas Weg aus der Magersucht beginnt direkt nach der Erkenntnis, dass die Krankheit gewonnen hat. Auch sie fängt an, regelmäßig OA-Treffen zu besuchen, an Tagen ohne Treffen telefoniert sie mit einem Mentor. 90 Tage geht das so. „Besser zwei Stunden am Tag das als den ganzen Tag in der Klinik“, sagt sie. Sie lernt mit der Zeit, mit ihren Problemen anders umzugehen, entschuldigt sich bei ihrer Familie. Währenddessen lässt sie sich ihr Essen von ihren Eltern portionieren. „Jede Mahlzeit war ein Kampf, es war die Hölle.“

Nur-für-heute-Prinzip

Sie schafft es mit dem wichtigsten Prinzip der OA: dem Nur-für-heute-Prinzip. Nur für heute muss sie essen. Nur fürs Frühstück. Nur fürs Mittagessen. „Wenn man alles in kleine Zeitabschnitte einteilt, lastet der Rest des Lebens nicht so auf einem“, sagt sie.

2012 hat sie es geschafft. Seitdem ist ihr Gewicht konstant, mittlerweile studiert sie, ist sozial integriert. „Wenn ich nach Hause komme und meine Mutter für mich gekocht hat, kann ich das genießen. Ich bin super dankbar, dass ich ein normales Leben führen kann.“ Zu den Treffen geht sie aber weiterhin zweimal pro Woche. Denn als geheilt sieht sie sich nicht: „Wenn ich nicht mehr zu den OA gehen würde, würde die Krankheit wiederkommen.“

Auch Aisha kehrt nach der Geburt ihres ersten Kindes und einer Beziehungskrise zu den OA zurück. Auch sie sucht sich eine Mentorin, mit der sie regelmäßig telefoniert, und die ihr hilft, in ihrem Leben Grenzen zu ziehen. Irgendwann lässt auch sie sich auf einen Essplan ein. „Den habe ich bis heute.“ Die Geburt ihres zweiten Kindes erlebt sie ohne Sucht. „Das war total heftig, weil ich nicht mehr so abgeschnitten von meinem Körper war.“ Sie lernt auch, Emotionen zuzulassen. „Oft muss ich aber noch kurz nachdenken, was ich gerade fühle.“

Doch auch sie würde nicht sagen, dass sie geheilt ist. Einmal wöchentlich geht sie zu einem Treffen. Auch sie schafft das nur mit dem Nur-für-heute-Prinzip.

Eines ist klar: Essen soll nie wieder einen so großen Platz in ihrem Leben einnehmen wie früher. „Schöner, schlanker, diese krasse Fixiertheit aufs Äußerliche“, sagt Elena, „so möchte ich nie wieder sein.“

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