"Die Impfung war der Wendepunkt"
Gesundheitsminister Kai Klose (Grüne) stand plötzlich im Mittelpunkt, als das Coronavirus im Frühjahr 2020 über Hessen und den Rest der Welt hereinbrach. Wie er die Pandemie erlebt hat, erzählt der 48-Jährige im zehnten Teil unserer Serie über die Auswirkungen der Krise auf Hessen.

Wie kam Hessen durch die Pandemie?
Hessen war als Standort des Frankfurter Flughafens besonders früh mit der Pandemie konfrontiert. Die hessischen Infektions- und Todeszahlen liegen etwa im Mittelfeld der Länder. Sehr erfolgreich haben sich unsere Kooperationen mit der Wissenschaft und den Krankenhäusern und Ärzten entwickelt. Schon im März 2020 haben wir den Planstab stationäre Versorgung im Ministerium ins Leben gerufen, der bundesweit beispielhaft ist. Wir wollten unbedingt vermeiden, dass Menschen nicht mehr behandelt werden können wie etwa in Bergamo. Das ist gelungen und bleibt weiterhin das wichtigste Ziel.
Gab es mal einen Moment, in dem Sie befürchtet hatten, es könnte kritisch werden in den Kliniken des Landes?
Die außerordentlich schnelle Entwicklung des Virus erschwert jede Planung. Der Jahreswechsel 2020/21 war die bisher schwierigste Phase. Damals gab es noch keine Impfungen, die Zahlen stiegen schnell an. Das verlangte vor allem in der stationären Altenpflege drastische Schutzmaßnahmen. Erst mit den Impfstoffen hat sich das geändert. Die Impfung war der Wendepunkt.
In Hessen war die Sterbequote in den Pflegeheimen vergleichsweise hoch. Was lief schief?
Es gab wie in allen Ländern aufgrund der zeitweisen Nichtverfügbarkeit von Tests Schwierigkeiten, diese besonders vulnerable Gruppe schnell zu schützen. Wir haben eine zentrale Abrufmöglichkeit von Tests für die Heime geschaffen, das hat sehr geholfen, denn damals wurden viele Infektionen durch Besucher und Mitarbeiter in die Einrichtungen getragen. Das war auch der Grund, warum wir dort mit den Impfungen eingestiegen sind.
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Welche Konsequenz ziehen Sie aus der Problematik?
Eine wichtige Konsequenz der bisherigen Pandemie ist, dass wir ein Hessisches Landesamt für Gesundheit aufbauen. Länder, die über solche Behörden verfügten - das sind bereits 13 - , hatten Handlungsvorteile.
Was waren bislang die Höhen und Tiefen?
Die Pandemie hat der Digitalisierung und auch dem mobilen Arbeiten zusätzlichen Schub verliehen, weil Kontaktvermeidung oberstes Prinzip war. Der sicher größte Erfolg ist die schnelle Entwicklung hochwirksamer sicherer Impfstoffe und dass wir schnell so viele Menschen impfen konnten. Dass das Virus so rasant mutiert und die Vakzine deshalb ständig angepasst werden müssen, steht auf einem anderen Blatt. Ohne die Impfstoffe wären wir aber auch jetzt mit Omikron in einer viel schwierigeren Lage. Ein Tiefpunkt ist, dass sich in Deutschland noch immer so viele Menschen nicht impfen lassen.
Wie hat die Pandemie die Gesellschaft verändert?
Die Pandemie hat wie ein Brennglas verstärkt, was gesellschaftlich schon im Argen lag. Zum Beispiel, dass wir einen Teil der Menschen kaum mehr erreichen können, weil sie evidenzbasierten Fakten nicht zugänglich sind und ihre Informationen aus zweifelhaften und manipulierenden Quellen beziehen. Das nagt an den Wurzeln des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Welche Defizite und sozialen Folgen sehen Sie?
Zu Beginn wurden gerade auch soziale bzw. Bildungseinrichtungen wie Alten- und Pflegeheime oder Schulen und Kitas zum Schutz vor dem Virus geschlossen, um Infektionen zu vermeiden. Das hatte erhebliche soziale Folgen, aus denen alle gelernt haben, mit denen wir uns aber auch weiter beschäftigen müssen, beispielsweise die Vereinsamung älterer Menschen, aber auch der Jugend. Ein weiteres Defizit ist der Rückfall in alte Rollenmuster: Die Familienarbeit fokussierte sich wieder stärker auf die Frauen. Erfreulich ist die gestiegene Wertschätzung für die Bedeutung der sozialen Berufe: Sie sorgen zuvorderst dafür, dass wir als Gesellschaft funktionieren - dem wird die monetäre Wertschätzung in einigen Bereichen aber bisher nicht gerecht.
Wie geht es weiter?
Die Menschen über 70 brauchen jetzt dringend eine vierte Impfung, Die Nachfrage ist bisher leider überschaubar. Diese Gruppe riskiert mit schnell nachlassendem Immunschutz im Herbst in eine weitere Welle zu laufen, möglicherweise mit einer neuen Virusvariante.
Was muss im Herbst besser laufen?
Der Bund muss die Zusammenarbeit mit den Ländern wieder ernst nehmen. Wir brauchen dringend ein neues Infektionsschutzgesetz, das es den Ländern ermöglicht, im Ernstfall schnell Schutzmaßnahmen verhängen zu können. Wir können es uns nicht leisten, dass der Bundestag erst im Herbst darüber entscheidet.
Was unternimmt das Land aus eigener Initiative?
Wir bereiten uns auf die-Impfungen mit dem omikronangepassten Impfstoff vor, haben Vorräte an Schutzausrüstung angelegt und sind engmaschig im Austausch mit der Impfallianz Hessen sowie den Vertretern der Kommunen, der Ärzteschaft, der Pflege und der Krankenhäuser.
Was hat sich für Sie persönlich verändert?
Der dauerhafte Krisenmodus belastet alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Hauses. Es ist sicher die größte Aufgabe, mit der ich in meinem beruflichen Leben bisher konfrontiert war - und es ist kein Ende absehbar. Für mich als freiheitsliebenden Menschen war und ist die ständige Abwägung zwischen dem notwendigen Gesundheitsschutz und den Grundrechten eine immer neue besondere Herausforderung.
Interview: CHRISTIANE WARNECKE
Zur Person
Kai Klose (48) ist seit Januar 2019 Hessischer Minister für Soziales und Integration. Zuvor war er seit 2017 Staatssekretär und Bevollmächtigter für Integration und Antidiskriminierung im Sozialministerium. Von 2013 bis 2019 stand Klose zudem als Landesvorsitzender an der Spitze der hessischen Grünen. Er wurde 2009 in den Hessischen Landtag gewählt. Der studierte Lehrer lebt mit seinem Ehemann in Idstein. ch