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Unfall-Hotspots: Gewerkschaft prangert Missstände auf hessischen Baustellen an

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Bauarbeiter arbeiten an einem Fundament.
Bauarbeiter arbeiten an einem Fundament. © Jens Büttner/dpa

Die IG Bau fordert mehr staatliche Kontrolle auf den Baustellen in Hessen und spricht von einem „eklatanten Überwachungsdefizit“. Auch die Regierungspräsidien sehen Probleme.

Frankfurt - Gerüste ohne Schutzgeländer, ungesicherte Baugruben, mangelhafte oder fehlende Schutzkleidung, Überstunden in Dauerschleife: Die Liste an Missständen, die die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau) auf den hessischen Baustellen bemängelt, ist lang. „Baustellen sind Unfall-Hotspots“, sagt Johannes Schader, Gewerkschaftssekretär bei der IG Bau Hessen. Allein, weil die Arbeit nicht auf befestigten Untergrund, sondern wahlweise auf Schlamm- oder Steinböden stattfinde. Ein Fuß sei schnell verknackst, erklärt Schader im Gespräch, die Dunkelziffer bei Unfällen hoch. Um die Unfallgefahr zu verkleinern, fordert die Gewerkschaft eine drastische Ausweitung der staatlichen Kontrollen auf den Baustellen.

Durch die Kontrollen sollen Betriebe, die auf Kosten ihrer Mitarbeiter Sicherheitsbestimmungen missachten und den Gesundheitsschutz nicht ernst nehmen, aufgespürt werden. Die Probleme auf den Baustellen sind dabei nur zum Teil hausgemacht. „Alle wollen billig bauen“, sagt Schader. Die Konsequenz sei, dass für die Arbeiten oftmals Firmen aus dem EU-Ausland angeworben würden, aus Rumänien, Polen oder Bulgarien, bei denen der Arbeitsschutz nur eine untergeordnete Rolle spiele. Die ausländischen Arbeitskräfte, die zu Dumpinglöhnen arbeiteten, würden ihre Rechte zum großen Teil nicht kennen.

Gewerkschaft prangert Missstände auf Baustellen in Hessen an

Zuständig für die Kontrolle der Baustellen sind in Hessen die drei Regierungspräsidien in Kassel, Gießen und Darmstadt, die als staatliche Arbeitsschutzinspektion fungieren. Kommen den Kontrolleuren Missstände zu Ohren, drohen den Baufirmen saftige Bußgelder, mitunter auch die Schließung der Baustelle, bis der Missstand behoben ist. Beim Aufspüren fehlenden Arbeitsschutzes sind die Kontrolleure, ebenso wie die Gewerkschaft, auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen. Gefährliche Baustellen sind dabei keineswegs ein spezifisch hessisches Problem, sondern ein deutschlandweites.

Dabei wären guter Arbeitsschutz und faire Löhne Grundvoraussetzungen, um dem eklatanten Personalmangel in der Baubranche zu begegnen. 400.000 neue Wohnungen wollte die Bundesregierung jedes Jahr schaffen. Vergangenes Jahr reichte es jedoch lediglich zu 295.300 Wohnungen, wie aus Zahlen des Statistischen Bundesamts hervorgeht. Das entspricht zwar immer noch einem Plus von 0,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, ihr Ziel hat die Ampel damit trotzdem deutlich verfehlt. Neben fehlendem Personal liegen die Gründe dafür in gestiegenen Baukosten und Zinsen sowie Lieferengpässen und Materialknappheit.

„Es gibt landesweit insgesamt viel zu wenig Kontrolleure“

Für die IG Bau Hessen steht fest: Auf den Baustellen zwischen Kassel und Darmstadt fehlt es an staatlicher Kontrolle. „Es gibt landesweit insgesamt viel zu wenig Kontrolleure. Nach dem aktuellen Arbeitsschutzbericht der Bundesregierung prüfen in ganz Hessen lediglich 158 Aufsichtsbeamte den Arbeitsschutz in den Betrieben. Rein rechnerisch ist damit ein Kontrolleur für 22.486 Beschäftigte zuständig – ein Ding der Unmöglichkeit“, zitiert die Gewerkschaft in einer Mitteilung den Bezirksvorsitzenden der IG BAU Hessen-Mitte, Peter Manns. Von einer effektiven und flächendeckenden Überwachung könne da „weit und breit keine Rede sein“. Manns spricht von einem „eklatanten Überwachungsdefizit“.

Die hessischen Regierungspräsidien widersprechen den Zahlen der Gewerkschaft. Diese bezögen sich auf den gesamten Arbeitsschutz – nicht den Bereich der Baukontrolle, schreibt das Regierungspräsidium Darmstadt auf Nachfrage. Außerdem: Die Zahl der Beschäftigten auf Baustellen schwanke täglich, Kleinbaustellen seien nicht meldepflichtig und darüber hinaus gebe es eine hohe Dunkelziffer nicht angezeigter Baustellen. Insofern sei eine statistisch verlässliche Größe, wie viele Kontrolleure auf einen Beschäftigten kommen, schwierig zu ermitteln.

Dass es Missstände auf hessischen Baustellen gibt, steht auch für die Regierungspräsidien außer Frage. Differenzierte Unfallzahlen gebe es allerdings nicht. 99 Untersuchungen führte das zuständige Arbeitsschutzdezernat des Regierungspräsidiums Darmstadt im vergangenen Jahr aufgrund von schwerwiegenden Bauunfällen durch. In Nordhessen waren es neun. Im Regierungsbezirk Gießen 27.

Auch Regierungspräsidien in Hessen sehen Missstände auf Baustellen

Dass nicht jede Baustelle auf guten Arbeitsschutz kontrolliert wird, liegt nicht nur an fehlenden Kontrolleuren, sondern auch daran, dass ein Großteil der Baustellen der Arbeitsschutzbehörde nicht angemeldet werden muss. Daher seien nur die Baustellen bekannt, die der Vorankündigungspflicht nach der Baustellenverordnung unterliegen, schreibt das Regierungspräsidium Gießen. Angekündigte Baustellen würden überprüft. „Darüber hinaus wird allen Beschwerden und Hinweisen auf gefährliche Situationen oder Abweichungen von den geltenden Arbeitsschutzbestimmungen nachgegangen.“ Diese Darstellung teilen die Regierungspräsidien in Darmstadt und Kassel. Auch dort werde selbstverständlich regelmäßig im kleinen und großen Rahmen kontrolliert.

Die Forderung der IG Bau nach einer staatlichen Arbeitsinspektion, einer neuen übergeordneten Behörde, die Kontrollen für Arbeitsschutz, Schwarzarbeit und Mindestlöhne bündelt, teilen die Regierungspräsidien nicht. Verstöße gegen Mindestlohnregelungen und Schwarzarbeit werden derzeit durch den Zoll überwacht und sanktioniert. Dafür dürfte das Personalproblem bei den Kontrolleuren in Zukunft zumindest kleiner werden. Das Arbeitsschutzgesetz sehe bis 2026 eine Mindestbesichtigungsquote vor, durch die zusätzliches Personal für Betriebsprüfungen eingestellt werde, welches dann auch bei den Baustellenkontrollen zum Tragen kommen wird, schreiben die Regierungspräsidien unisono.

Baustellen in Hessen: Ausbeutung, nicht gezahlte Gehälter, schlechter Arbeitsschutz

Der Wunsch nach einer Bündelung der Kompetenzen ist aus Sicht der Gewerkschaft nachvollziehbar. Zu viele Probleme auf dem Bau hingen miteinander zusammen, als dass man sie einzeln effektiv bekämpfen könnte, erklärt Johannes Schader. Ausbeutung, nicht gezahlte Gehälter, schlechter Arbeitsschutz - all diese Missstände würden aufgrund von undurchsichtigen Geschäftskonstrukten, „Dreiecksverträgen“ und mangelnden der Überwachung gedeihen. Neben der Unfallgefahr blieben niedrige Löhne, hohe Krankheitsrisiken durch Asbest und weißen Hautkrebs sowie körperlicher Verschleiß ständiger Begleiter der Bauarbeiter. „Ich sehe nicht den politischen Willen, grundlegend etwas zu verändern“, sagt der Gewerkschaftssekretär. (nhe)

Sozialarbeiter Alexandru Firus spricht im FR-Interview über das Leben von prekär beschäftigten Bauarbeitern, geduldete Missstände und aufsuchende Hilfe.

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