"Hessen verschläft seine Zukunft"
Die SPD bekommt derzeit bei Umfragen historische Tiefstände dokumentiert. Warum watschen die Mensch diese große Volkspartei derart ab? Der hessische SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel, der auch einer der Stellvertreter von SPD-Bundeschef Sigmar Gabriel ist, stellt sich den Fragen von Joachim Braun, Dieter Sattler und Christiane Warnecke.
Sie hatten gerade einen großen persönlichen Erfolg zu verbuchen: Ihre einstimmige Wiederwahl als SPD-Fraktionschef im Landtag. Die SPD ist ja nicht gerade bekannt für Wahlen ohne Gegenstimmen. Wie schaffen Sie es, trotz allzeitschlechtester Umfrageergebnisse für Ihre Partei sich im Landtag unangefochten an der Spitze zu halten und keine Personaldebatte entbrennen zu lassen wie im Bund?
THORSTEN SCHÄFER-GÜMBEL: Wahrscheinlich liegt es einfach daran, dass wir in der Fraktion wie in der Landespartei sehr transparent und offen über die Herausforderungen für die sozialdemokratische Partei reden. Ich sorge dafür, dass es auf der einen Seite Orientierung gibt, ich auf der anderen Seite aber auch alle zusammenführe und jeder mit seinen Standpunkten zu Wort kommt. Das ist offensichtlich gut gelungen. Ich gestehe, ich habe das Wahlergebnis selbst nicht erwartet und habe mich darüber riesig gefreut.
In der öffentlichen Wahrnehmung ist die SPD aber auch in Hessen weit in den Hintergrund getreten.
SCHÄFER-GÜMBEL: Das sehe ich anders – ich nenne mal die Stichworte Börse, Flüchtlingspolitik, Bildung, Arbeitsplätze bei K+S, Wohnungsbau oder Infrastruktur – da treibt die SPD die Diskussionen an, während Schwarz-Grün in Deckung geht. Angesichts vieler Unsicherheiten auf internationaler und nationaler Ebene tritt die Landespolitik vielleicht insgesamt etwas aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Jetzt in der Mitte der Wahlperiode fangen wir natürlich an, uns personell und organisatorisch auf die Bundestagswahl und die Landtagswahl ein Jahr später vorzubereiten.
Sie reden über Personal und die Organisation, geht es denn nicht ausschließlich um Inhalte?
SCHÄFER-GÜMBEL: Natürlich geht es um Inhalte. Die SPD versteht sich als Partei der Arbeit und der sozialen Gerechtigkeit. Die Frage, wie sich die Arbeitsgesellschaft in Deutschland im Zeichen der Globalisierung und Digitalisierung entwickelt, beschäftigt uns sehr intensiv, denn jeder spürt die Veränderungen an seinem Arbeitsplatz. So ist etwa die Sozialversicherung der Zukunft ein ganz großes Thema für uns, aber auch eine gleichmäßigere Besteuerung von Kapital und Arbeit.
Ihr Bundesparteivorsitzender hat sich aber gerade am Wochenende gegen eine Vermögenssteuer ausgesprochen. Wie ist Ihre Position?
SCHÄFER-GÜMBEL: Gabriel hat sich nicht dagegen ausgesprochen, sondern Anforderungen formuliert, die erfüllt werden müssen. Das ist etwas anderes. Die SPD-Fraktion im Landtag veranstaltet eine Anhörung, mit der Pro und Kontra nicht aus dem Bauch heraus, sondern fachlich intensiv ausgelotet werden sollen. Die Vermögenssteuer ist ein Instrument für mehr Verteilungsgerechtigkeit. Aber es muss auch funktionieren – der Frage widmen wir uns jetzt.
Insgesamt fällt es Ihrer Partei dennoch schwer, mit ihren Themen durchzudringen. Woran liegt das?
SCHÄFER-GÜMBEL: Wir reden zu wenig über unsere Erfolge wie zum Beispiel die Einführung des Mindestlohns. Wir müssen auch deutlicher machen, dass die CDU keine Sekunde zögern wird, die von uns durchgesetzten Erfolge rückgängig zu machen, wenn sie eine politische Mehrheit dafür bekommt. Unsere Zukunftsthemen sind in den vergangenen zwölf Monaten schon stärker in den Fokus gerückt, auch durch die Flüchtlingsfrage, zum Beispiel die Wohnungsnot.
Ihr Lieblingsthema Gerechtigkeit kommt dennoch für viele Menschen sehr abstrakt daher. Wie wollen Sie damit Stimmen einfangen?
SCHÄFER-GÜMBEL: Wir sind intern gerade in intensivsten Beratungen, an welchen Stellen wir das Thema konkret machen. Sicherlich müssen wir uns mit der Rentenversicherung und der Zukunft der Alterssicherung insgesamt beschäftigen. Und die Lösung dafür ist sicher nicht die von der Landesregierung vorgeschlagene Deutschlandrente, weil sie im Kern keine einzige Frage löst, außer dass man den Versicherten vielleicht die Kosten für hohe Abschlussprovisionen bei Verträgen erspart.
Die hessische Landespolitik liegt ja derzeit weitgehend im Tiefschlaf. Bietet die schwarz-grüne Regierung Ihnen zu wenig Angriffsfläche, um präsenter zu werden?
SCHÄFER-GÜMBEL: Es stimmt, die Regierung ist im Tiefschlaf nach zwei Jahren Dauerfeierlichkeiten. Sie verschläft wichtige Weichenstellungen in der Bildungspolitik- und Familienpolitik, aber insbesondere bei Investitionen und Infrastrukturfragen wir Breitband und Verkehr. Dieses Thema wird den nächsten Wahlkampf prägen. Die Menschen haben die Nase voll davon, im Stau zu stehen und in überfüllten Zügen zu sitzen. Der Sanierungsstau auf Straße und Schiene ist unerträglich. 16 Jahre CDU-Regierungen haben zu wenig bewegt und Schwarz-Grün macht zwar PR, gebaut wird aber kaum. Wer in einer Nullzinsphase nicht investiert, hat Wesentliches nicht verstanden. Außerdem müsste Ministerpräsident Bouffier dringend dem Bundesfinanzminister Beine machen, damit Schäuble die Ländervereinbarung beim Länderfinanzausgleich umsetzt. Bei diesem Projekt, indem es für Hessen um 500 Millionen Euro geht, steht es 2 vor 12. Dieses Geld würde dringend gebraucht, zum Beispiel für den Ausbau der Infrastruktur. Schäuble hintertreibt aber die Einigung!
Straßenbau und Flugverkehr beschäftigen zweifellos viele Menschen. Aber zur großen sozialdemokratischen Geschichte gehört doch noch mehr. Hat Ihre Partei denn überhaupt noch Personal, das die Geschichte verkörpert?
SCHÄFER-GÜMBEL: In meiner Generation stehe ich selbst wie viele andere auch für die große Erzählung sozialer Aufstieg durch Bildung. Und es macht mich zornig, wenn ich sehe, das auch heute noch der Bildungserfolg maßgeblich von der Stellung des Elternhauses abhängig ist. Deswegen reden wir so intensiv über Chancengleichheit und soziale Teilhabe. Eine Geschichte auch anhand von Biografien zu erzählen reicht aber nicht, dahinter muss ein Konzept stehen, wie wir es machen – mit dem Vorschlag zu gebührenfreien Kitas haben wir einen Baustein schon konkretisiert.
Sie entwickeln fundierte Konzepte, aber Sie erreichen die Leute damit nicht. Das Erstarken populistischer Parteien zeigt, dass die Menschen einfache Antworten suchen. Die SPD als Partei der Arbeiter hat ihre Anhänger in der Vergangenheit auch eher damit erreicht, dass sie ihre Anhänger auf Augenhöhe abgeholt hat. Sind Ihre Konzepte zu intellektuell?
SCHÄFER-GÜMBEL: Populisten geben niemals Antworten, sie versuchen Stimmung zu machen ohne eine einzige Antwort zu geben. Sie beruhen auf Vorurteilen, Verdrehungen, Lügen und Verleumdungen. Das ist niemals unser Niveau. Trotzdem muss die politische Sprache aller demokratischen Parteien verständlicher und zugewandter werden. Es gibt ja das Einstein zugeschriebene Zitat: „Mache die Dinge so einfach wie möglich – aber nicht einfacher.“ Die Sprache ist oft zu technokratisch, nicht klar. Da fasse ich mich auch an die eigene Nase. Das größte Problem aber ist nicht die Kommunikation, sondern dass viele Menschen die Erfahrung machen, dass sich für sie zu wenig verbessert hat und es da einige gibt, die sich die Taschen voll machen. Die Unsicherheit ist enorm gewachsen.
Was ist die Konsequenz daraus für Ihre Partei?
SCHÄFER-GÜMBEL: Die beiden Volksparteien SPD und CDU müssen wieder mehr über die Grundsatzfragen ringen und den Mut zu Richtungsentscheidungen haben.
Aber in der großen Koalition in Berlin wird das schwer. Der Gegensatz der Meinungen ist kaum mehr wahrnehmbar.
SCHÄFER-GÜMBEL: Die einen sagen, es wird zu wenig gestritten, die andern sagen, es ist zu viel Streit. Ich glaube, das ist nicht die entscheidende Frage. Es geht darum, um was gestritten wird. Die Unterschiede sind noch groß genug, wenn man sieht, wie die SPD gegen die Unionsseite kämpfen muss, um die sozialen Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag umzusetzen.
Im Hinblick auf die Bundespräsidentenwahl haben Sie die Chance, den Wahlkampf schon jetzt zu eröffnen. Warum nutzt die SPD nicht die Möglichkeit, Steinmeier als überparteilich beliebten rot-rot-grünen Kandidaten zu positionieren?
SCHÄFER-GÜMBEL: Wir wählen einen Bundespräsidenten und keine neue Koalition. Und wir sind auch in anderen Fragen stur: Wir reden jetzt weder über die Frage der Kanzlerkandidatur noch über einen Präsidentschaftskandidaten.
Die Debatte um Parteichef Gabriel ist aber schon längst entbrannt.
SCHÄFER-GÜMBEL: Das ist doch vor Wahlkämpfen immer ein herbeigeredetes Thema. Da muss man kühlen Kopf bewahren. Wir werden die Spitzenkandidatur Anfang 2017 vor der Landtagswahl in NRW entscheiden.
In Hessen stellt sich die Kandidatenfrage ja vermutlich nicht, aber die Frage nach den Themen, mit denen Sie im nächsten Landtagswahlkampf punkten wollen. Verkehr haben Sie schon genannt, was noch?
SCHÄFER-GÜMBEL: Arbeit und Bildung: Im Rahmen der Verfassungsreform werden wir keiner Änderung zustimmen, die einer gebührenfreien Bildung entgegensteht.
Geht diese Forderung über beitragsfreie Kitas hinaus?
SCHÄFER-GÜMBEL: Ja, sie bezieht sich auch auf Studiengebühren. Das „überraschende“ Urteil des Staatsgerichtshofs dazu verstehen wir als Auftrag, das Thema in der Verfassung unmissverständlich zu klären.
Beim größten Infrastrukturprojekt Hessens, dem Ausbau des Frankfurter Flughafens, sind ja nun die Weichen gestellt für ein drittes Terminal...
SCHÄFER-GÜMBEL. Ich war über die Ankündigung der Fraport sehr verwundert, dass sie verstärkt auf Billig-Airlines setzen will. Die Begründung für das T3 war immer mit der Abwehr dieser Verkehre verbunden gewesen. Diesen Kurswandel halte ich für falsch. Außerdem schmerzt uns der drohende Arbeitsplatzabbau bei der LufthansaCargo sehr. Die deutsche Luftverkehrswirtschaft profitiert nicht mehr im Gleichschritt mit dem weltweiten Wachstum. Wir müssen wirklich aufpassen, dass wir nicht den Anschluss verlieren.