„Zuwanderung ermöglichen, wenn sie uns nutzt“: Boris Rhein für einen „kümmernden Konservativismus“

Nach kaum acht Wochen im Amt des hessischen Ministerpräsidenten spricht Boris Rhein im großen Interview über seine Pläne.
Wiesbaden – Seit knapp zwei Monaten hat Hessen einen neuen Ministerpräsidenten. Der Frankfurter Boris Rhein führt nun die schwarz-grüne Koalition im Land – und hat gleich einen handfesten Skandal zu meistern. Über seine Strategien und Pläne spricht der CDU-Politiker im Interview mit unserer Zeitung.
Vom Landtagspräsidenten zum Ministerpräsidenten – was gefällt Ihnen besser an Ihrem neuen Amt und was vermissen Sie?
Ich genieße die Tätigkeit als Ministerpräsident sehr. Die große Themenvielfalt liegt mir. Am besten gefällt es mir, draußen bei den Menschen zu sein. Was mir etwas fehlt, ist die Überparteilichkeit, die der Landtagspräsident qua Amt hat. Aber ich empfinde mich als Ministerpräsident aller Hessen, und der Austausch mit der Opposition ist mir wichtig.
Sie haben ein gutes Jahr Zeit, um sich einen Amtsbonus für die nächste Landtagswahl zu erarbeiten. Was ist Ihr Plan?
Wir müssen sehr deutlich machen, dass die Bürger eine verlässliche Koalition haben, die – obwohl es auf Wahlen zugeht – das Arbeiten nicht einstellt, sondern sehr viele Pläne und Ideen hat. Wir sind nicht müde, sondern haben ein großes Programm vor uns, wie ich es in meiner Regierungserklärung skizziert habe. Ich werde mich intensiv vor Ort um die Themen kümmern. Das ist der Plan.
Um welche Themen? Und was wollen Sie anders angehen als Ihr Vorgänger?
Ich will mich gar nicht künstlich von meinem Vorgänger absetzen. Das muss ich auch nicht. Volker Bouffier war ein erfolgreicher Ministerpräsident. Mir sind drei Kernthemen besonders wichtig: Ich will erstens den Klimaschutz ins Zentrum rücken, dafür legen wir in Kürze ein Gesetz vor. Der zweite Punkt: Mir liegt die klassische Wirtschafts- und Sozialpolitik sehr am Herzen. Und das dritte Großthema ist Katastrophenschutz und Innere Sicherheit.
Boris Rhein will in Hessen Politik für Familien machen
Was wollen Sie in der Sozialpolitik voranbringen?
Wir müssen Politik machen für Familien. Das gilt etwa für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie für unsere Ganztagsprogramme. Wir müssen uns aber auch um die Pflege kümmern. Dazu werden wir ein Kurzzeit- und Tagespflegeprogramm auflegen. Außerdem müssen wir unsere Krankenversorgung verbessern, dazu habe ich einen Krankenhausgipfel angekündigt.
Das klingt, als wollten Sie Grüne und SPD in der Sozialpolitik und beim Umweltschutz überholen...
Nein, die CDU ist die starke Kraft der Mitte und die einzige verbliebene Volkspartei. Unsere Wurzeln sind liberal, christlich-sozial und konservativ. Und ich glaube, die CDU ist gut beraten, die christlich-soziale Wurzel zu stärken mit aktiver Politik.
Sie beschreiben sich als mitfühlenden Konservativen. Was unterscheidet Sie vom klassischen Konservativen?
Wenn die Menschen das Wort „konservativ“ hören, denken sie oft, das stehe einzig und allein für manchmal als kalt empfundene Wirtschaftspolitik. Der mitfühlende Konservatismus nimmt sich der Sorgen und Nöte der Menschen an. Er ist ein kümmernder Konservatismus.
Unterscheiden Sie sich dabei von Friedrich Merz?
Nein, der Bundesvorsitzende wird oft als reiner Mann der Wirtschaft gesehen. Doch wer die CDU Deutschlands führen will, muss ein mitfühlender Konservativer sein. Ansonsten hätte die Idee der konservativen Volkspartei keine Zukunft. Ich erlebe Friedrich Merz als jemanden, dem es genauso wie mir um alle drei Wurzeln der CDU geht.
Ihr Verhältnis hat sich also verbessert?
Friedrich Merz hat die Basis wieder mit der Führung der CDU versöhnt. Die Parteimitglieder sind sehr zufrieden mit ihm. Er setzt die richtigen Themen und übt den nötigen Druck auf die Bundesregierung aus, zum Beispiel bei den Waffenlieferungen an die Ukraine. Er ist ein guter Oppositionsführer und stellt alle Weichen, die Union in die Regierung zurückzuführen. Zwischen ihm und mir stimmt die Chemie außergewöhnlich gut.
Würden Sie gerne eine stärkere Rolle in der Bundespolitik spielen, wie Bouffier?
Ich habe jetzt erstmal dafür zu sorgen, dass die CDU in Hessen die stärkste Kraft wird bei der Landtagswahl 2023. Natürlich hat ein Ministerpräsident immer auch ein bundespolitisches Mandat. Aber mein Platz ist hier in Hessen. Ich habe dafür zu sorgen, dass an der Union vorbei keine Regierung gebildet werden kann.
Neuer Ministerpräsident Hessens: Boris Rhein nennt SPD „unsortiert“
Bei diesem Thema sticheln Sie gerne gegen Nancy Faeser wegen Ihres Amtes in Berlin und sagen zugleich, Sie schätzten Tarek Al-Wazir „über die Maßen“. Ist die SPD im anstehenden Dreikampf der härtere Gegner als die Grünen?
Wir wissen ja gar nicht, wer für die SPD antritt. Die Sozialdemokratie ist vollständig unsortiert. Sie hat weder ein Team noch Themen. Das verunsichert die Partei. Trotzdem habe ich großen Respekt vor Nancy Faeser und vor der Sozialdemokratie. Ich nehme alle Mitbewerber sehr ernst. Mit Tarek Al-Wazir habe ich ein enges Vertrauensverhältnis. Und ich finde, es ist das Normalste der Welt, dass zwei, die sich in einer gemeinsamen Koalition befinden, bei der nächsten Wahl gegeneinander antreten.
Wie wollen Sie sich vom grünen Regierungspartner abgrenzen?
Wir stehen ja nicht zum ersten Mal vor dieser Situation. Wir werben mit den besten Ideen um die Gunst der Wähler.
Wann endet die schwarz-grüne Harmonie, und wann beginnt der Wahlkampf?
Bis zum Ende des Jahres stellen wir unsere Kandidaten in den Wahlkreisen auf. Im neuen Jahr beginnt damit schon eine Art Wahlkampfzeit. Aber wir werden bis zum letzten Tag verlässlich zusammen regieren.
Was werden die großen Themen im Wahlkampf sein?
Die zahlreichen Krisen werden uns gar nicht viel Zeit für Wahlkampf lassen. Wir haben eine Verantwortung gegenüber diesem Land. Das gilt auch für die Opposition. Krisen kann man am besten gemeinsam bewältigen, und das ist unsere Aufgabe. Zudem regieren wir als hessische CDU das Land seit 1999 und haben uns schon jedes Themas erfolgreich angenommen.
Glauben Sie, man kann eine Wahl gewinnen mit dem Tenor, wir haben viel erreicht und machen weiter so?
Nein, aber unsere Erfolge würden durch eine Regierung unter anderer Führung gefährdet. Ich erinnere mich noch an den riesigen Unterrichtsausfall an Hessens Schulen vor 1999. Heute haben wir viel mehr Lehrer und kennen Stundenausfall in diesem Maße gar nicht mehr. Auch die Aufklärungsquote von Straftaten und die Polizeipräsenz haben wir enorm verbessert. Daran arbeiten wir weiter. Wirtschafts- und Sozialpolitik, Schulpolitik und Innere Sicherheit bleiben die Kernthemen der CDU.
Die Ideen der Mitbewerber gehen aber teils weiter...
Ich strenge mich sehr an, herauszufinden, was etwa die Zukunftsthemen der Sozialdemokratie sind. Ich kann einfach nicht erkennen, was sie besser machen wollen, außer, dass sie von allem noch ein bisschen mehr wollen. Auch bei der Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse, die mir sehr wichtig ist, sehe ich keine brauchbare sozialdemokratische Idee, obwohl die SPD-geführte Bundesregierung doch ein eigenes Heimatministerium eingerichtet hat.
Die Corona-Pandemie und die hohe Inflation befeuern die Spaltung der Gesellschaft. Jetzt droht auch noch eine Gaskrise. Wie wollen Sie die Gesellschaft zusammenhalten?
Das Geld, das wir für die Corona-Hilfen in die Hand genommen haben, war genau aus diesem Grund gut investiert. So haben wir verhindert, dass es zu gesamtgesellschaftlichen Schieflagen gekommen ist. Trotzdem steht die Union klar zur Schuldenbremse. Denn was mir große Sorge macht, ist die Inflation. Die wird von der Bundesregierung getrieben, indem sie in gigantischem Maße Schulden anhäuft. Die Menschen müssen aber vor allem gerecht entlastet werden, zum Beispiel durch eine Einkommenssteuerreform, um die kalte Progression zu stoppen.
Hessen: Ministerpräsident Boris Rhein kritisiert Bundesregierung wegen Corona-Politik
Wäre es nicht sinnvoller, zielgerichtet den Bedürftigen zu helfen?
Bedürftigen müssen wir ohnedies helfen, wenn es etwa zu weiter steigenden Energiepreisen kommt. Aber wenn ich die Entfernungspauschale erhöhe, hilft dieses Geld genau den Menschen, die jeden Tag mit ihrem Auto zur Arbeit fahren müssen. Ich bin sehr wohl dafür, alle Menschen zu unterstützen, die durch ihre Arbeit den Laden am Laufen halten.
Sie kritisieren auch die Corona-Politik der Bundesregierung. Was ist Ihre Linie für den Herbst?
Die Bundesregierung hat die Länder wissentlich und willentlich ausgeschlossen. Jetzt trägt sie allein die Verantwortung für die Lage im Herbst und Winter. Und dass die Ampel auch noch intern gegeneinander arbeitet, macht es für uns Länder nicht einfacher. Wir brauchen Rechtssicherheit, das heißt ein Infektionsschutzgesetz, das über den 23. September hinaus die Dinge regelt. Und die Länder brauchen wieder mehr Freiheiten, um eigene Maßnahmen zu ergreifen. Die aktuellen Corona-Zahlen beweisen es: Die Pandemie ist keineswegs vorbei. Trotzdem weigert sich die Bundesregierung, die Richtung klar vorzugeben. Was wir stattdessen erleben, ist ein Corona-Chaos der Ampel-Koalition in Berlin.
Welche Maßnahmen halten Sie in Hessen für sinnvoll?
Wir bereiten uns auf die Impfungen mit dem auf Omikron angepassten Impfstoff vor und sind in der Lage, schnell wieder die entsprechende Infrastruktur aufzubauen.
Innere Sicherheit war immer Ihr Lieblingsthema, die geplanten Sicherheitsgesetze von Schwarz-Grün stoßen aber bei der Opposition auf Widerstand. Wie viel Videoüberwachung brauchen wir?
Überall dort, wo wir Videoüberwachung haben, gehen Kriminalitätszahlen runter. Die Bürgerinnen und Bürger wollen das auch.
Und bei der Zuwanderung unterstützen Sie Faesers Pläne für ein Chancenaufenthaltsrecht…
Wir sollten mit dem Thema Zuwanderung gelassener und weniger ideologisch umgehen. Wer alle Bedingungen erfüllt, hat eine verfestigte Integration erreicht. Und das kann ein Ansatzpunkt sein, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Wir sollten Zuwanderung ermöglichen, wenn sie uns nutzt. An den Flughäfen und in der Gastronomie haben wir derzeit nicht nur einen Fachkräfte-, sondern schlicht auch einen Arbeitskräftemangel.
Sehen Sie auch Potenzial bei Flüchtlingen aus der Ukraine.
Ich nehme wahr, dass sie sich hier schnell integrieren und arbeiten wollen. Ich nehme aber auch wahr, dass fast alle wieder in ihr Land zurück wollen.
Fürchten Sie um die Akzeptanz der Hilfen für die Ukraine, wenn bei den Menschen die Energienachzahlungen in den Briefkasten flattern?
Wir sollten nicht nur über Energiemangel und Gaspreise reden. Was in der Ukraine passiert, müssen wir vor allem unter dem Gesichtspunkt des Friedens und der Freiheit für Europa diskutieren. Die Ukrainerinnen und Ukrainer verteidigen auch unsere Freiheit. Das ist der größte Wert überhaupt. Jetzt ist es an der Zeit, den Aggressor zu stoppen, damit er kein Land mehr angreifen kann.
Boris Rhein: „Der Schaden für die documenta ist enorm“
Halten Sie das für realistisch?
Ja. und ich halte es auch für notwendig. Ansonsten werden wir in eine noch schlimmere Lage kommen, als uns um unsere Energieprobleme zu kümmern.
Die internationalen Krisen überlagern im Moment vieles, doch auch in Hessen haben Sie gerade einen handfesten Skandal zu bewältigen: Den Umgang mit den antisemitischen Darstellungen auf der documenta. Es gibt nun personelle Konsequenzen, doch hätte Ihre Regierung nicht schneller reagieren müssen?
Der Schaden für die documenta ist enorm, das bedaure ich sehr. Es ist erschreckend, dass dort eine eindeutig antisemitische Bildsprache gezeigt wurde. Die Struktur der documenta muss nun neu aufgestellt werden, denn die Verantwortlichkeiten sind zu diffus. Wichtig ist, dass das Land Hessen und die Stadt Kassel dabei Hand in Hand arbeiten.
Vor zehn Jahren haben Sie die Frankfurter OB-Wahl gegen Peter Feldmann verloren. Jetzt sind Sie Ministerpräsident, und er im Abseits. Wie geht es Ihnen dabei?
Ich empfinde keine Schadenfreude. Peter Feldmann ist immer demokratisch gewählt worden. Für mich ist die Sache abgeschlossen. Aber dieser Oberbürgermeister beschädigt den Ruf Frankfurts. Das hat auch dazu geführt, dass politisch seit Monaten nichts vorangeht in der Stadt.
In der Coronazeit sind große Lücken bei Hessens Schülern entstanden und es gibt Zweifel, ob Programme wie Löwenstark die Defizite ausgleichen können...
Wir werden unsere Programme weiter sehr intensiv vorantreiben, um Lernrückstände aufzuholen. Ich bin zuversichtlich, dass diese Bemühungen erfolgreich sein werden. Vor allem ergreifen wir alle Maßnahmen, um Schulschließungen zu verhindern.
Machen Sie in diesem Sommer Urlaub?
Ja, ich freue mich darauf, mit der Familie ein bisschen Zeit zu verbringen, nachdem die vergangenen Wochen und Monate ziemlich arbeitsintensiv waren. (Interview: Christiane Warnecke)
Zur Person
Boris Rhein ist seit 31. Mai hessischer Ministerpräsident. Zuvor war er seit 2019 Landtagspräsident. 2010 bis 2014 war er hessischer Innenminister, bevor er zum Minister für Wissenschaft und Kunst ernannt wurde. Im Jahr 2012 verlor der CDU-Politiker die Frankfurter Oberbürgermeisterwahl gegen Peter Feldmann von der SPD .Der Jurist ist verheiratet und hat zwei Söhne.