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Onlinesucht trifft nicht nur Nerds

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»Nur mal kurz die Mails checken«: Etwa 41 500 Hessen sind onlinesüchtig, schätzt die Hessische Landesstelle für Suchtfragen (HLS). Rund 30 Prozent der Betroffenen sind Frauen, jeder Vierte ist zwischen 30 und 40 Jahre alt. Viele gaben die sozialen Netzwerke als Suchtmittel an.
»Nur mal kurz die Mails checken«: Etwa 41 500 Hessen sind onlinesüchtig, schätzt die Hessische Landesstelle für Suchtfragen (HLS). Rund 30 Prozent der Betroffenen sind Frauen, jeder Vierte ist zwischen 30 und 40 Jahre alt. Viele gaben die sozialen Netzwerke als Suchtmittel an. © Jens Wolf (dpa-Zentralbild)

Hunderttausende Menschen in Deutschland sind internetsüchtig. Neben Rollenspielen kommen viele auch von sozialen Netzwerken nicht mehr los. Über Ursachen und Behandlungsstrategien beraten Fachleute in Frankfurt.

Von Ira Schaible (dpa)

Mit Windel tagelang vorm Rechner im Rollenspiel oder einsame Dauer-Ballerei am Bildschirm: Die gängigen Klischees exzessiver Computernutzer bröckeln. Internetsucht kann nach Ansicht von Fachleuten jeden treffen. Die Abhängigen seien älter und häufiger Frauen als von der Wissenschaft angenommen, stellt der Initiator der ersten moderierten virtuellen Selbsthilfegruppe für Internetabhängige (webC@re), Benjamin Wockenfuß, fest.

Gut jeder Vierte der rund 100 Betroffenen, die im vergangenen Jahr in dem bundesweiten Vorzeigeprojekt Unterstützung suchten, sei bereits 30 bis 40 Jahre alt gewesen, sagt der Therapeut von der Drogenhilfe in Köln am Rande einer Fachtagung in Frankfurt. Jeder Fünfte war sogar über 40 Jahre. 30 Prozent der Teilnehmer waren Frauen, fast genauso viele gaben die sozialen Netzwerke als Suchtmittel an.

Ein wachsendes Problem sieht der Suchttherapeut in elektronischen Sportspielen, bei denen es auch um Geld geht. „Vor dem Hintergrund der Glücksspielsucht bringen sie eine neue Facette.“ Glücksspiel im Internet zähle zu den besonderen Risiken von Computersucht, sagt Andreas Gohlke von der Glücksspiel-Ambulanz der Uni Mainz. Andere Risiken seien mehr als 500 Online-Freunde und mindestens 2,6 Stunden Computerspiel pro Tag. Hunderttausende sind nach Einschätzung der Fachleute in Deutschland internetsüchtig. Eine zwei Jahre alte Studie im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums gehe von 560 000 Abhängigen aus, sagt der Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen (HLS), Wolfgang Schmidt-Rosengarten. Damit wären in Hessen etwa 41 500 Menschen onlinesüchtig. „Das Phänomen ist in den letzten Jahren immer stärker geworden.“ Andere Fachleute schätzen die Zahl der Betroffenen auf bis zu eine Million, berichtet Wockenfuß.

Als Krankheit ist die Sucht noch nicht anerkannt. Die Leiterin der Technischen Krankenkasse Hessen, Barbara Voß, mahnt jedoch: „Die Erfahrung zeigt, dass Onlinesucht ebenso schwerwiegende Auswirkungen auf die Betroffenen hat wie beispielsweise die Alkohol- oder Drogensucht.“ Oft kämen noch andere Süchte dazu.

Positives Feedback

„Wir sind soziale Wesen und wollen ein schnelles Feedback“, beschreibt Dong-Seon Chang vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen die Faszination des Internets. „Die Interaktion mit anderen Menschen stimuliert das Belohnungszentrum im Gehirn.“ Und: „Wir bekommen online viel einfacher ein schnelles, positives Feedback.“ Darin liege auch die Suchtgefahr.

Die Merkmale von Onlineabhängigkeit seien vergleichbar mit denen anderer Suchterkrankungen, sagt Schmidt-Rosengarten. „Steigerung der Dosierung: Der Betroffene sitzt immer länger vorm Bildschirm“, nennt er als Beispiel. „Die Aufmerksamkeit verengt sich, das soziale Umfeld und Hobbys werden vernachlässigt.“ Der Süchtige lasse zudem nicht von seinem Verhalten ab, obwohl er deshalb bereits Probleme in der Schule, in seinem sozialen Umfeld und bei der Arbeit habe. Dazu komme Kontrollverlust: „Genauso wenig, wie der Alkoholiker sagen kann, ich trinke nur ein Bier, kann der Internetabhängige sagen, ich spiele nur eine Stunde.“

Reales oder virtuelles Ich

„Es gibt ein reales und ein virtuelles Ich, und die beiden differieren sehr stark“, beschreibt Wockenfuß die Nutzer der Selbsthilfegruppe. „In der realen Welt erlebe ich Ablehnung und Misserfolg, in der virtuellen Belohnung, Anerkennung und Erfolg.“ Wenn die reale Welt immer unattraktiver werde, werde die virtuelle immer mehr zum Zuhause. Depressionen, Aufmerksamkeits-, Zwangs- und soziale Störungen spielten bei den Betroffenen häufig auch eine Rolle, ergänzt Sozialarbeiter Gohlke.

„Der Wunsch und die Sehnsucht nach einfacher, entspannter Belohnung war die Triebfeder von fast allen Usern von webC@re“, sagt Wockenfuß. Was bringt sie dazu, Hilfe bei der virtuellen Selbsthilfegruppe zu suchen? „Viele wollten ihr Studium schaffen oder im Job nach der zweiten Abmahnung nicht rausfliegen.“ Dabei kommt ihnen der einfache Zugang – Selbsthilfe per Mausklick – entgegen.

„Mut machen, was ich online gut kann, auch offline auszuprobieren“, beschreibt Wockenfuß eine wirksame Strategie. Abstinenz sei bei Internetsucht nicht praktikabel, sagt Gohlke. Es gehe darum, die Kontrollfähigkeit zurückzugewinnen.

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