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Binnenflüchtlinge verlieren Hoffnung auf Rückkehr in ihre Heimat

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Von: Romina Kunze

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World Vision organisiert mit lokalen Partnern eine Verteilung von Lebensmittelvorräten für rund 65 000 Menschen. Für Gebiete tief im Osten des Landes werden Pakete zusammengestellt, mit denen sich je eine Person vier Wochen lang ernähren kann.
World Vision organisiert mit lokalen Partnern eine Verteilung von Lebensmittelvorräten für rund 65 000 Menschen. Für Gebiete tief im Osten des Landes werden Pakete zusammengestellt, mit denen sich je eine Person vier Wochen lang ernähren kann. © World Vision

Der Krieg in der Ukraine zwingt die Menschen dazu, ihre Heimatorte zu verlassen. Viele flüchten aus den Regionen nahe der Front in andere Landesteile. Um sie kümmert sich die in Friedrichsdorf ansässige Hilfsorganisation World Vision von einem Büro in Czernowitz im Westen des Landes aus. Es wird von der Friedrichsdorferin Melanie Assauer geleitet. Sie hat in schriftlicher Form zahlreiche Fragen von Junge-Zeitung-Autorin Anna Fichtner und Redakteurin Nadine Klein zur aktuellen Lage der Binnenflüchtlinge und einer Perspektive für die Zukunft, aber auch zu den Folgen des Krieges wie einem Anstieg der Lebensmittelpreise und einer dadurch drohenden Hungersnot beantwortet. 

Wie ist aktuell die Lage in Czernowitz?

Chernivtsi ist in der Ukraine ein „sicherer Hafen“. Nicht allein für internationale Organisationen, sondern auch für Menschen, die innerhalb des Landes Schutz vor dem Krieg suchen. Die Kleinstadt im Westen hatte vor der Krise rund 250 000 Einwohner, nun zählt man 350 000. Damit hat sich vor allem die Wohn- und Lebenssituation für die Menschen verengt. Die Mietpreise sind rapide gestiegen, Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser sind am Rande ihrer Kapazitäten.

Wie lange sind Sie schon dort? Hat sich die Situation seither verändert?

Ich bin nun die achte Woche für World Vision im Einsatz in Chernivtsi, und zu Beginn sprachen die meisten Geflohenen noch Hoffnung aus, bald an ihre ursprünglichen Wohnorte zurückkehren zu können. Während diese Hoffnung schwindet, bemerken wir vermehrt Sorgen um eine Bleibe in den derzeitigen Notunterkünften. Seitens der Regierung besteht großer Druck, Schulgebäude und Kindergärten zum Beginn des neuen Schuljahres im September für den Unterricht wieder zugänglich zu machen. Die Geflohenen fürchten so, erneut ohne Zuflucht zu sein. Zu Beginn lebten viele weiterhin mit ihren Ersparnissen und auch von weiter gezahlten Gehältern. Dies ändert sich nun rapide, da Gespartes aufgebraucht ist und Arbeitsstellen nicht länger aufrechterhalten werden können.

Für Familien ist neben der anhaltenden Wohnungsnot auch der Mangel an Angeboten zur Kinderbetreuung bzw. kindergerechten Alltagsgestaltung ein drängendes Problem. All dies trägt dazu bei, dass Spannungen zwischen geflüchteten Menschen und der lokalen Bevölkerung zunehmen.

Seit Beginn der Krise 2014 besteht laut Gesundheitsexperten ein großer und dennoch zu wenig bedachter Bedarf an psycho-sozialer Betreuung, und die Auswirkungen der nun hinzugekommenen traumatischen Erfahrungen werden meines Erachtens unterschätzt. Kinder imitieren die Geräusche der Sirenen zum Bombenalarm erschreckend genau, verbringen die meiste Zeit des Tages mit Erwachsenen in spartanisch ausgestatteten Schlafsälen und bekommen kaum Gelegenheit, sich mit dem rapiden Wandel ihres Alltags auseinanderzusetzen, geschweige denn ihr Dasein als Kind unbeschwert zu erleben.

Wie gefährlich ist die Lage aktuell dort, wo Sie und Ihr Team sich aufhalten?

Die Lage in unserer Region ist eher sicher als gefährlich einzuschätzen. World Vision hat, wie auch andere Organisationen, ein Risikogebiets-Raster etabliert und die Regionen und Oblaste in gelbe, orange, rote und schwarze Zonen, je nach Gefährlichkeitsgrad, eingeteilt. Schwarze Zonen sind so nicht zugänglich (russische okkupierte Gebiete), rote sind solche unter aktivem Gefecht. Chernivtsi ist als sicherste (gelbe Zone) bewertet, wo wir uns frei bewegen können. Das Sicherheitspersonal beobachtet die Situation und mögliche Schwankungen sehr genau. Der Ort ist zudem 40 Kilometer von der Grenze zu Rumänien gelegen, so dass etwaige Evakuierungen zeitnah geschehen können. Wir erleben in unregelmäßigen Abständen Bombenalarme, haben dann aber stets die Möglichkeit, einen Schutzbunker aufzusuchen.

Aus welchen Teilen der Ukraine kommen die Flüchtlinge, die Sie betreuen?

Aus allen Teilen der Ukraine.

Melanie Assauer.
Melanie Assauer kümmert sich um Hilfsprogramme in der Ukraine. © Privat

Wie sieht die Hilfe aus?

In den ersten drei Monaten haben wir uns darauf konzentriert, das Überleben notleidender Menschen zu sichern, etwa durch Lebensmittel-Verteilungen oder auch durch Bargeldhilfen. Wir haben darüber hinaus in Rumänien und in der Ukraine die Ausstattung von Notunterkünften mit dem Notwendigsten, wie Matratzen, Heizkörpern, Küchengeräten, unterstützt. Als Kinderhilfsorganisation legt World Vision aber auch großen Wert darauf, kinderfreundliche Anlaufstellen einzurichten, mit dem Ziel, den Kindern Schutz und psychologische Ersthilfe zu geben.

Aktuell organisieren wir mit lokalen Partnern eine Verteilung von Lebensmittelvorräten für rund 65 000 Menschen. Für Gebiete tief im Osten des Landes stellen wir Pakete zusammen, mit denen sich je eine Person vier Wochen ernähren kann. Das Paket enthält Nahrung, deren Zubereitung nicht auf Warmwasser oder Strom angewiesen ist.

Koordinatorin internationaler Einsätze

Die Friedrichsdorferin Melanie Assauer (43) ist bei World Vision Referentin für Humanitäre Hilfe. Zwischen 2009 und 2017 lebte sie im südlichen Afrika. In Namibia, Simbabwe, Südafrika und Sambia hat sie vornehmlich lokale gemeinnützige und ehrenamtlich arbeitende Organisationen in deren Etablierung und Stabilisierung unterstützt. Zu World Vision kam sie im September 2017. Dort koordiniert beziehungsweise unterstützt sie internationale Großeinsätze, schwerpunktmäßig bisher für die Regionen südliches Afrika, Ostafrika und Asien. Sie betreute etwa Einsätze gegen die Covid-19-Pandemie, für Nothilfe im Konfliktgebiet Tigray / Äthopien, beim Vulkanausbruch in der Demokratischen Republik Kongo sowie bei weiteren Naturkatastrophen in Afrika und Asien. Aktuell unterstützt sie den Hilfseinsatz für die Ukraine und hat dafür ein Einsatz-Zentrum in Czernowitz aufgebaut. Sie treibt dort mit einem gemischten Mitarbeiterteam Hilfsprogramme in der West- und Südukraine voran. Diese vereinbart World Vision zusammen mit Behörden und mit lokalen und internationalen Organisationen als Partnern.

Gleichzeitig leisten wir finanzielle Hilfe in den dörflichen Regionen in diesem Oblast, um 6000 Menschen mit monatlich vereinbarten Beträgen von umgerechnet circa 72 Euro zu ermöglichen, ihre größten Bedürfnisse nach eigenem individuellen Ermessen decken zu können.

Speziell für Kinder starten wir nun ein Sommercamp-Projekt in Kooperation mit den Schulen in Zakarpattia, Lviv und Chernivtsi. Damit möchten wir Kindern während der Sommerferien und darüber hinaus kindgerechte und erlebnisorientierte Betreuung anbieten und gleichzeitig den Eltern etwas freie Zeit verschaffen.

Wo liegen die größten Probleme?

Der stark eingeschränkte Zugang zu den im Osten verbliebenen Menschen macht eine aktuelle Einschätzung ihrer Nöte wie auch der Möglichkeiten für adäquate Unterstützung schwierig. Die Lage verändert sich ständig, und so muss auch der Ansatz der Hilfe dynamisch bleiben. Momentan wissen wir zum Beispiel, dass die Märkte auch im Osten weitestgehend funktionieren, gleichzeitig aber steigt die Inflation und der Zugang zu Märkten kann jederzeit unterbrochen werden. World Vision unterhält daher ein Lagerhaus, ausgestattet mit lebensrettenden Gütern und Nahrung, bereitet andererseits weitere Bargeldleistungen vor, da durch Banken Hilfe auch ohne direkten Zugang schnell ermöglicht werden kann.

Trotz der sommerlichen Temperaturen müssen wir jetzt schon an den bald nahenden Herbst und Winter denken. Eine dringende Aufgabe hier in der Westukraine ist es, die Unterkünfte von Geflüchteten auf diese Zeit vorzubereiten.

Sollte man eher Geld oder lieber materielle Dinge spenden, um den Flüchtlingen zu helfen?

Ich stelle bei dieser Frage immer die Gegenfrage: Was würden Sie in einer Notsituation als Unterstützung bevorzugen? Mit Bargeld ist die Hilfe meistens effizienter und vor allem würdevoll. Die Betroffenen können eigenständig entscheiden, was sie am nötigsten brauchen, und wir umgehen mit finanzieller Hilfe oft die sogenannten negativen Bewältigungsmechanismen in einer Krise, wie zum Beispiel Schuldenfallen oder Obdachlosigkeit, da die Miete nicht mehr bezahlt werden kann oder in schlimmeren Fällen auch Kinderarbeit.

Die Märkte in der Ukraine funktionieren trotz verminderter Zugänge und so kann auch World Vision alle Güter im Land einkaufen, womit wir dazu beitragen, den inländischen Markt zu stabilisieren, anstatt durch große Importe weiter zu destabilisieren. Sachspenden sollten jedenfalls nur dann erwogen werden, wenn sie von gut informierten Stellen gezielt angefordert werden.

Es wird immer deutlicher, dass der Krieg in der Ukraine den Anstieg der Lebensmittelpreise stark befeuert. Der Export von Getreide und anderem ist blockiert – was katastrophale Folgen besonders für ärmere Länder hat . . .

Ja, die Zahl der Länder, die durch unser System als Katastrophengebiete eingestuft werden, steigt weiterhin. Viele Menschen sind durch die Maßnahmen unter Covid 19 und andere Krisen in tiefere Armut geraten und können sich die teilweise um 40 oder 60 Prozent teurer gewordenen Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten. Der Preisanstieg ist auch ein großes Problem für Hilfsorganisationen, die die ärmsten und am meisten auf Hilfe angewiesenen Menschen humanitär unterstützen.

Hinzu kommt die Klimaerwärmung, die ebenfalls ärmere Länder etwa in Afrika besonders hart trifft. Wo liegen die größten Probleme?

Weltweit sind die Lebensgrundlagen – und damit auch die Ernährung – von immer mehr Menschen durch Extremwetter-Ereignisse bedroht.

Ostafrika erlebt zum Beispiel gerade wieder eine fürchterliche Dürre, genauso wie Afghanistan, während in Indien und Bangladesch Millionen Menschen durch neue Rekord-Überschwemmungen aus ihren Heimatregionen vertrieben werden. Am größten sind die Ernährungsprobleme aber dort, wo auch Konflikte die Versorgung erschweren und wo es gleichzeitig eine große Abhängigkeit von Nahrungsmittel-Importen gibt.

Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze warnte kürzlich, es drohe die schwerste Hungersnot seit dem Zweiten Weltkrieg. Sehen Sie die Lage genauso schwarz?

Die Lage ist in der Tat so dramatisch wie seit Jahrzehnten nicht mehr. 21 Millionen Kinder sind einer für sie leicht tödlichen Unterernährung schon sehr nahe. Die Hungersnöte, die sich gerade in vielen Ländern ausbreiten, sollten eigentlich der Vergangenheit angehören und sie gefährden leider auch viele Entwicklungsfortschritte, weil viele Kinder zum Beispiel nicht mehr in die Schule gehen können und Mädchen aufgrund der Not noch früher verheiratet werden.

Wie lässt sich eine schwere Hungersnot noch abwenden?

Hilfsorganisationen wie World Vision arbeiten jetzt mit Hochdruck daran, den am stärksten gefährdeten Menschen rechtzeitig Zugang zu Nahrung, Trinkwasser und medizinischer Hilfe zu verschaffen. Diese Nothilfe verbinden wir möglichst mit Maßnahmen, die den Menschen ermöglichen, ihre Lage eigenständig zu verbessern. Dafür brauchen wir sowohl finanzielle als auch politische Unterstützung. An den Ursachen der Probleme muss im kleineren Rahmen gearbeitet werden; Betroffene Menschen müssen gehört und Regionalpolitik mehr Spielraum für kontextspezifische Bedarfe eingeräumt werden. Um Kriege zu beenden, muss es Dialoge und Gesprächsbereitschaft geben, nicht Waffen. Es gibt globale Krisen, es gibt nationale Krisen, die Lösungen dafür sind aber immer regional.

Klar, Krieg und Hungersnot sind keine Themen für die Lokalpolitik in Friedrichsdorf oder dem Taunus. Gibt es dennoch etwas, was auf dieser Ebene getan werden kann?

Danke für die Frage. Eine Stadt oder auch ein Kreis hat durchaus Möglichkeiten, einen wertvollen Beitrag zu leisten – sei es durch Unterstützung von Hilfsprojekten oder durch partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Regionen im Süden und natürlich auch durch das Schaffen von Aufmerksamkeit für vergessene Krisen. Städte können Vorbilder schaffen für eine beteiligungsfreundliche Demokratie.

Einfach so weitermachen sollte sicher auch für jeden Einzelnen keine Option sein. Haben Sie Tipps für den Alltag? Was können die Menschen im Taunus tun, um ein ganz, ganz kleines bisschen gegenzusteuern?

-Öfter mal Weizen durch Hirse ersetzen, denn so entsteht auf dem Weltmarkt und auch in Afrika ein höherer Anreiz, dieses gesunde, dürre-resistentere Getreide anzubauen

--Kleinbäuerliche biologische Landwirtschaft unterstützen

-Lebensmittel- und Ressourcen-Verschwendung reduzieren

- Geflüchteten Kindern Angebote zur Erholung und gute Betreuung von Anfang an machen

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