1. Startseite
  2. Hessen

Das verpfuschte Leben des Rick J.

Erstellt: Aktualisiert:

Kommentare

„Soko Johanna“ bereitete J.’s Festnahme akribisch vor. Warum notierte der 42-Jährige den Namen „Melly Franke“?

Ist Johanna ihrem Peiniger trotz Fesselung quasi „entgegengesprungen“? Oder soll dies Rick J.’s Gewalt gegenüber der Achtjährigen erklären? Ist überhaupt die Unfallversion von Johannas Tod einem Gespräch des Täters mit Ermittlungsbeamten entlehnt? Aussagen am gestrigen fünften Verhandlungstag ließen Raum für Spekulationen – und eröffneten tiefe Einblicke in ein triebgesteuertes, verpfuschtes Leben.

Schon als Kind entwickelte Rick J. sexuelle Fantasien und versuchte er, sie auszuleben: durch voyeuristisch motivierte Beobachtungen von Kindern und Mädchen, deren Ergebnisse er in einschlägigen Notizen festhielt; durch erste sexuelle Übergriffe bereits als 14-Jähriger. Vorgezeichnet war ihm als Adoptivsohn einer wohlhabenden Familie dieser Weg nicht, wie eine Beamtin der im Frühjahr 2017 eingerichteten zweiten „Soko Johanna“ gestern vor dem Landgericht erläuterte.

Schockierende Prognose

Im Auftrag der Soko hatte die Beamtin fünf Monate lang akribisch Rick J.’s Leben rekonstruiert und dabei eine beklemmende Abfolge von Übergriffen, Anzeigen und Therapieversuch ausfindig gemacht. Ein „Mörder und Vergewaltiger“ werde J. – an diese makabre Charakteristik aus dem Abibuch erinnerte sich eine Schulkameradin.

Mit 17 Verhaltenstherapie, zehn Jahre später Haft in Darmstadt wegen Fahrens ohne Führerschein unter Drogeneinfluss, 2011 Einlieferung in die Psychiatrie wegen eines wirren Versuchs, sich unter Drogeneinfluss irgendein Mädchen zu schnappen, 2016 dann die Fesselung einer 14-Jährigen in einem Maisfeld bei Nidda, durch welche der Fall Johanna wieder ins Rollen kam – spätestens seit der Oberstufenzeit geriet J.’s Leben zunehmend außer Kontrolle, war geprägt von Parties, Techno, Drogenkonsum. Sein Studium brach er ab.

Zwölf- bis 16-Jährige seien seine Zielgruppe, hatte J. bei der polizeilichen Vernehmung ausgesagt. Warum er Johanna dann nicht habe gehen lassen, nachdem er erkannt hatte, dass sie ein Kind war? J. habe gewusst, dass er bei der Aktion nicht straffrei davonkommen werde, und nach eigener Aussage „dann auch etwas davon haben wollen“, erinnerte sich der Soko-Leiter vor Gericht. J.’s Aussagen blieben auch hier offenbar widersprüchlich. Er habe in Kenntnis ihres Alters „keinen Sex“ haben, sondern sie „nur befummeln“ wollen, gab er zu Protokoll – und konnte dann nicht erklären, wieso Johanna vor der Ablage ihrer Leiche im Wald bei Alsfeld offenbar entkleidet wurde.

„Schwer vorstellbar“

Schwierig gestaltete sich der Versuch zu rekonstruieren, was nach der Entführung Johannas (vermutlich zwischen 17.10 und 17.20 Uhr an einer Brücke nahe des Sportplatzes) im Detail geschah. Jeweils zehn bis 15 Minuten will J. mit Johanna im Kofferraum umhergefahren sein, bevor er anhielt, um sie mit einem an einer Pferdekoppel hängenden Seil, danach mit zusätzlichem Klebeband fester gefesselt zu haben. Eine Zeugin, die an der Niddaer Tankstelle um 17.41 Uhr am 2. September 1999 Zigaretten kaufte, sah allerdings J. suchend umherlaufen und dann „unverrichteter Dinge“ wieder hinausgehen – sie bestätigte die Aussage der Tankstellenpächter, im Shop kein Klebeband verkauft zu haben.

Als schwer vorstellbar erscheint J.’s Angabe, beim zweiten Halt auf einem Parkplatz sei ihm Johanna, aus der Betäubung erwacht, trotz Fesselung „quasi entgegengesprungen“. Er habe sie daraufhin mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen, ihr dabei „möglicherweise die Nase gebrochen“, sie daraufhin mit Klebeband gefesselt und geknebelt. Da ihm der Parkplatz als Ort eines Missbrauchs als ungeeignet erschien, fuhr er weiter in Richtung Schotten, tiefer in den Wald. Eine Stunde später habe er erneut gehalten, da sei Johanna tot gewesen, „kalt und steif“, weshalb er keine Wiederbelebungsversuche unternommen habe, diktierte J. der Polizei-Protokollantin in die Feder.

Von einer Tankstellenquittung berichtete die Soko-Ermittlerin, die J. in der Nacht zu Samstag, dem 4. September, in der Nähe von Grünberg – also nahe des Ablageortes – erhielt. Dies könne, mutmaßte die Beamtin, darauf hindeuten, dass J. „sich länger als nur ein paar Stunden mit Johanna beschäftigte“, und würde nach ihrer Einschätzung auch erklären, warum J. die Achtjährige bereits „kalt und steif“, also mutmaßlich schon seit Stunden tot, in seinem Kofferraum fand.

Das offensichtliche Interesse des Staatsanwalts weckte die Erklärung beider gestern vernommenen Soko-Beamten, nach J.’s Verhaftung auf der Fahrt ins Präsidium auf sein Drängen hin mit ihm gesprochen – und dabei die Auffassung vertreten zu haben, er sei kein kaltblütiger Mörder, und es könne sich bei Johannas Tod um einen Unfall gehandelt haben.

Knallrot geworden

Eine weitere Überraschung hatte die Beamtin für das Gericht parat. Unter den zahlreichen Papieren, Dokumenten und Notizen, für deren Transport aus J.’s Friedrichsdorfer Wohnung acht Umzugskartons nötig waren, fand sich ein Zettel mit der handschriftlichen Notiz „Melly Franke“. Er habe die Schrift als seine identifiziert, sei dabei knallrot geworden und vorübergehend nicht so selbstsicher gewesen wie sonst in der Vernehmung, schilderte die Polizistin. Eine Party-Bekanntschaft beziehungsweise den Namen einer Statistin aus einer Daily Soap bot J. als Erklärung an. Jeden Zusammenhang mit Melanie Frank stritt er ab – die 13-Jährige aus Wiesbaden war am 16. Juni 1999 verschwunden, drei Monate vor Johannas Entführung. Ihre Leiche wurde nach zehn Jahren im Hunsrück gefunden. Die Überprüfung einer möglichen Täterschaft J.’s läuft, wie die Beamtin versicherte. Die Verhandlung wird am kommenden Dienstag mit weiteren Zeugenaussagen fortgesetzt.

Auch interessant

Kommentare