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"Karl May": Faszinierender Blick auf ein Phänomen

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Für "Terra X" auf den Karl Mays Spuren: Rainer Strecker als Kara Ben Nemsi und Adnan Maral als Hadschi Halef Omar in den Wüsten Tunesiens. Bild: ZDF und Dr. Johannes Zeilinger
Für "Terra X" auf den Karl Mays Spuren: Rainer Strecker als Kara Ben Nemsi und Adnan Maral als Hadschi Halef Omar in den Wüsten Tunesiens. Bild: ZDF und Dr. Johannes Zeilinger © ZDF/ Dr.Johannes Zeilinger

Karl

Karl May erschuf Mythen und wurde selbst zum Mythos. Er kam in einer bettelarmen sächsischen Weberfamilie zur Welt, wurde des Uhrendiebstahls bezichtigt - was er später, wie die Dokumentation geschickt herausarbeitet, in seinem Erfolgsroman verarbeitete - und trat als Hochstapler auf. Doch im Alter von 50 Jahren gelang ihm mit der Buchausgabe des in Nordafrika, dem vorderen Orient und auf dem Balkan spielenden Abenteuerzyklus "Durch die Wüste" der große Durchbruch, der ihn nach heutigen Maßstäben zum millionenschweren Bestsellerautor machte. Quasi der amerikanische Traum auf deutsche Art im Kaiserreich.

Ein Erfolg, der bis heute - über 100 Jahre nach seinem Tod im Jahr 1912 - anhält: Mehr als 200 Millionen Bücher von Karl May wurden bis heute in über 40 Sprachen verkauft, was ihn zum auflagenstärksten Schriftsteller Deutschlands werden ließ. Doch wer war der Superautor wirklich? Die Dokumentation versucht, May auf die Spur zu kommen. Wichtige Aussagen über ihn kommen dabei von dem Psychiater Professor Hiderk Emrich und Dr. Johannes Zeilinger.

Mit Karl May in der Wüste

Zeilinger ("Karl May war ein früher Popstar der Literatur") ist Vorsitzender der Karl-May-Gesellschaft - bezeichnenderweise eine der literarischen Gesellschaften Deutschlands mit den meisten Mitgliedern. "Terra X" heftet sich mit ihm auf die Spur seines Romanhelden Kara Ben Nemsi und reist nach Tunesien, wo May in den endlosen Weiten der Wüste das Abenteuer beginnen lässt, das ihn reich und berühmt machen sollte. May hatte die Schilderungen der Landschaft teilweise wortwörtlich aus echten Reisebeschreibungen übernommen.

Als junger Mann hatte sich May als Augenarzt oder Polizeioffizier ausgegeben, was ihm eine langjährige Gefängnisstrafe einbrachte. Dort entdeckte er seine Berufung als Autor. Zwischen 1881 und 1888 erschien der Orientzyklus erstmals in Fortsetzungen in der Zeitschrift "Deutscher Hausschatz in Wort und Bild",  ab 1892 in Buchform. Er entwickelte sich zu einem ungeheuren Erfolg.

Auf dem Höhepunkt seines Ruhms Mitte der 1890er Jahre trat May ungeniert als seine Romanhelden auf und behauptete, 1200 Sprachen und Dialekte zu beherrschen. Er posierte mit dem Henrystutzen und dem Bärentöter aus den "Winnetou"-Romanen und in orientalischer Tracht. Für die Dokumentation stellt Rainer Strecker May im zeitgenössischen Ambiente nach, der spätere May wird von Günter Kurze gespielt.

Kampf mit einem Erpresser

Als May im Jahr 1899 erstmals tatsächlich in den Orient reiste, zogen sich erste dunkle Wolken über ihm zusammen. Gerüchte waren aufgetreten, die ihn der Hochstapelei bezichtigten. Sie waren auch - was der Film nicht angibt - die Folge einer langwierigen Auseinandersetzung Mays um fünf Romane, die er für den Verleger Münchmeyer verfasst hatte. Im Jahr 1904 wollte der Journalist Rudolf Lebius mit ihm ins Geschäft kommen - genauer gesagt, er wollte May erpressen.

Als May nicht darauf einging, verfasste Lebius mehrere Artikel gegen ihn.Sie gipfelten schließlich in einer Hetzschrift, die May als "Verderber der deutschen Jugend" bezichtigte. Die Auseinandersetzungen waren für May eine gewaltige nervliche Belastung. Er rettete sich - so "Terra X"  - schließlich mit einer erneuten fiktiven Behauptung: Er sei eine gespaltene Persönlichkeit, wie er in seiner Autobiographie "Ich" niederschrieb.

Teilweise geriet die Dokumentation etwas oberflächlich, was natürlich der kurzen Laufzeit geschuldet ist. May war auch ein Produkt seiner Zeit. Es fehlt etwa ein Hinweis auf mögliche Zusammenhänge zwischen Mays Romanerfolgen und den Bestrebungen des Kaiserlichen Deutschlands, seinen wirtschaftlichen Einfluss und seine Absatzmärkte - etwa später durch den Bau der Bagdadbahn ab 1903 - nach Vorderasien auszudehnen. Dadurch geriet der Orient stärker ins öffentliche Interesse.

Karl May als manischer Arbeiter

Dennoch gelingt es "Terra X", Karl Mays Persönlichkeit begreifbar zu machen. Dabei tritt auch sein immenser Arbeitseifer hervor. May war nicht nur ein Vielschreiber, er hatte - wie die Dokumentation bemerkenswert deutlich macht - tatsächlich viele Worte aus dem Arabischen und den Indianersprachen nachrecherchiert und einstudiert. Seine Identifikation mit seinen Romanhelden war nicht nur in seiner Phantasie entstanden, sondern auch das Produkt von sehr viel Fleiß und harter Arbeit. 

Er schrieb noch mit der Hand, als es längst Schreibmaschinen gab - und er korrigierte dabei nur sehr wenig. Hier arbeitete "Terra X" ausgezeichnet, als es eine Originalschrift Mays zu "Winnetou IV" analysierte. May war nicht geisteskrank, er war vielmehr "vollkommen eins mit sich und den von ihm erschaffenen Figuren". Die Dokumentation ging aber leider nicht auf die weitverbreitete Ansicht ein, dass May sich insgeheim weniger mit dem als Idealfigur dargestellten Kara Ben Nemsi bzw. Old Shatterhand identifizierte, sondern vielmehr mit dem hochstaplerischen Hadschi Halef Omar, dem gewitzten Diener des Helden aus dem Orientzyklus. 

Hadschi Halef Omar: Karl Mays echtes literarisches Ich?

Hadschi Halef Omar ist eher schmächtig gebaut und ein gutmütiger Prahler und Aufschneider. Er trägt in seinem Namen den Titel eines "Hadschi" - also eines Mekkapilgers - obwohl er nie in Mekka war, zu Unrecht also. Parallelen zu May selbst - der zur der Zeit, als er seine berühmten Abenteuerromane niederschrieb, ebenfalls noch nie den Orient oder Amerika und den Wilden Westen bereist hatte - sind tatsächlich unübersehbar.

Als erfolgreicher Schriftsteller aus dem Wilhelminischen Deutschland fasziniert May nicht nur durch seine Romane, sondern auch durch seine Persönlichkeit bis heute. Die Dokumentation trägt mit treffenden Kommentaren und stimmungsvollen Bildern viel dazu bei, sein Leben und seine Zeit zu erhellen. Sie steht in der Mediathek des ZDF und ist sehr empfehlenswert.

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