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Grandios: Polizeiruf 110 erzählt von kleinem Coup und großer Pleite

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Polizeiruf 110: Elisabeth (Verena Altenberger) stellt Posse (Wolf Danny Homann) im Hotelzimmer zur Rede.
Polizeiruf 110 in der ARD: Elisabeth (Verena Altenberger) stellt Posse (Wolf Danny Homann) im Hotelzimmer zur Rede. © BR/maze pictures GmbH / Hendrik Heiden

Der grandiose Polizeiruf „Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ erzählt äußerst wirkungsvoll eine zutiefst düstere Geschichte. Am Sonntagabend läuft er in der ARD.

Man denkt, man hätte alles gesehen, und dann kommt so etwas. Dabei ist die Grundstruktur des zweiten Polizeirufs mit der Münchner Oberkommissarin Elisabeth Eyckhoff, Verena Altenberger, vertraut: Nicht direkt schurkische, aber doch korrumpierbare Polizisten, deren Rechtsempfinden irgendwo zwischen Familiengründung und überzogenem Konto aus dem Blick geraten ist. Dann die Gelegenheit. Dann die Oberpleite. Dann die Eskalation. Existenzen fliegen auseinander, es kommt zu Gewalttaten.

Da die – oder müsste man sagen: obwohl die – Polizisten bisher immerhin Polizisten waren, fällt es ihnen schwer zu begreifen, in was für eine Lage sie sich gebracht haben. Der Übergang von dem teenagerhaften Gefühl, einen Coup gelandet zu haben, bei dem es nicht direkt die Falschen getroffen hat, und der Zertrümmerung von allem, was war, wird im Buch von Günter Schütter und in der Regie von Dominik Graf subtil genug vollzogen, um mit jeder neuen Wendung wieder zu überraschen. Zumal die Perspektive diesmal nicht die der angewiderten Kolleginnen und Kollegen von der Kripo ist, sondern die der irgendwo auch leicht verblödeten Täter, die sich vor allem gegenseitig Vorwürfe machen und etwas läppisch einen Korpsgeist beschwören.

Polizeiruf 110 (ARD): Alle sind beleidigt, alle tun sich selber leid

Und wenn schon nicht die jeweils nächste Wendung selbst überrascht, dann überraschen zumindest die Figuren. Sieh an, wozu der Mensch fähig ist, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht. Sieh an, dass er trotzdem nicht unbedingt ein schlechtes Gewissen hat. Es ging ja bloß um Geld. Ein illegaler Börsenhandel ist so abstrakt, dass nicht Moral, sondern nur Intelligenz die in Versuchung Geführten hätte schützen können – eine gemischte Runde: biedere Bayern, davon einer, der ein Messer dabei hat und auch zieht, eine alleinerziehende Mutter mit nordafrikanischen Wurzeln, ein junger Afrodeutscher, der sich bei einem Escort-Service was dazuverdient.

Stereotype und Alltagsrassismus schwingen beiläufig mit. Herrlich, wie sie sich jedenfalls alle leid tun und auch beleidigt sind, während der Ärger auf sie zurollt. Selbst die Oberkommissarin, die von Verena Altenberger überwältigend natürlich und unverschnörkelt gespielt wird, erklärt, bei ihrer Arbeit gehe es realistisch betrachtet doch „um die Sicherung von Besitzverhältnissen“, nicht um Gerechtigkeit oder so. Sie selbst hat nicht mitgemacht. Erstens ist sie nicht bescheuert, zweitens – das ist ihre eigene Lesart – hätte sie gar kein Geld für den Einsatz gehabt.

Polizeiruf 110 (ARD): Zynisch, selbstgerecht und das Gefühl, dass die Chefs nicht besser sind

„Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ ist auch in der Struktur klassisch angelegt. Am Anfang des Films scheint bereits alles vorbei zu sein, und es gibt eine Untersuchung. Autor Schütter hat sich aber noch einiges zum Nachschieben aufgehoben. Ob das alles im Einzelnen realistisch ist: vermutlich nicht. Dass man es sich unbedingt vorstellen kann: bitter. Vor allem überzeugen der Zynismus, die Selbstgerechtigkeit, das verdammte Gefühl der Polizisten, dass die Chefs auch nicht besser sind. Die ziemlich lange, ziemlich feucht-fröhliche karnevalistische Feier am Anfang lässt bereits ahnen, dass es die letzte ihrer Art sein wird. Bei der Polonaise tanzt der Tod persönlich vorneweg. Das Publikum weiß, was das zu bedeuten hat. Schütter und Graf gelingt es, die große melancholische Klammer am Ende zu schließen. Sie haben etliche Asse im Ärmel.

Polizeiruf 110 (ARD): Bizarre Szenen von Leben und Tod

„Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ enthält viele schöne und bizarre Einzelszenen, das Leben und den Tod betreffend. „Du, ich topf die Mama um, ich hab heute eine neue Urne gesehen, die hat mir so gut gefallen“, sagt die fidele Gattin (auch dies ist nicht gesetzestreu!). Der Kurzauftritt der abgebrühten Finanzbetrügerin in einem leerstehenden Hotel, dem ein Lawinenabgang bevorsteht: irrwitzig. Wendungen wie „aufpudeln“, „hinhängen“ oder „andrahten“ machen den Alltag interessanter. Andrahten im Sinne von: „Willst du mich jetzt andrahten, oder was?“ Selbst wenn es ein Hörfehler gewesen sein sollte, ist das Wort (aus der Floristik- und Bastelsprache) genial. Die Oberkommissarin stellt die rhetorische Frage dem smarten Mann von der Börsenaufsicht, Wolf Danny Homann, mit dem sie zusammenarbeiten soll. Aber die haben auch nur Quatsch im Kopf.

„Polizeiruf 110: Die Lüge, die wir Zukunft nennen“, ARD, Sonntag (08.12.2019), 20.15 Uhr. Es gibt eine FSK-16-Fassung, die am 10. Dezember um 00.35 Uhr gezeigt wird. Weitere Informationen finden Sie auf www.daserste.de.

Von Judith von Sternburg

„Polizeiruf 110: Heilig sollt ihr sein“ (ARD): Der deutsch-polnische Polizeiruf verhebt sich schwer an seinem Thema Glaube und Wahn.

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