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Abschied von den bösen Rammstein-Engeln

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Demonstranten in Berlin forderten dazu auf, Rammstein zu canceln.
Sänger Til Lindemann: „Bösen Zungen glaubt man nicht“, rief er beim letzten Konzert. © picture alliance/dpa

Sänger Till Lindemann irritiert mit neuen Texten. Nach drei Konzerten in Berlin stellt sich die Frage, was aus der Band Rammstein wird

Berlin -Angst. Das Video zum Rammstein-Song zeigt weiße Mittelschichtspießer, die in ihren Vorgärten Rasen mähen, Mauern hochziehen, Stacheldraht anbringen. Panik, Pogromstimmung, Schüsse: „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ Man könnte den Song politisch korrekt als höhnische Satire auf die verbreitete Furcht vor Flüchtlingen und Überfremdung verstehen, auf die Scharfmacher, die sie schüren. An diesem Abend ändert Sänger Till Lindemann (60) den Text: „Alle haben Angst vor Lindemann.“

Drei ausverkaufte Konzerte hat die Band seit Samstag im Berliner Olympia-Stadion gegeben, das letzte gestern Abend. Am Samstag gab es Proteste. Rund 200 Demonstranten fordern, Rammstein zu canceln: „Keine Bühne für die Täter“, steht auf Plakaten. Am Sonntag sind die Proteste abgeflaut. Zwei Leute, die offenbar die Bühnentechnik sabotieren wollten, seien von der Polizei des Stadions verwiesen worden, heißt es.

Alles scheint normal an diesem sonnigen, himmelblauen Nachmittag, fast volksfestartig friedlich rund um das alte von den Nazis erbaute Stadion: Viele Paare sind da, Familien mit Kindern. Fast alle tragen Bandshirts, so wie jene vermeintlich harten Männer, die durch breitbeiniges Gehabe und Bierkonsum das Klischee des Hardcore-Fans erfüllen und einen markigen Spruch gewählt haben: „Manche führen“, steht vorn auf der Brust, „manche folgen“ auf der Rückseite - eine dieser typischen Rammstein-Liedzeilen, die gruselig klingen, nimmt man sie ernst und wörtlich, die aber immer auch eine bandtypische Ironie enthalten, welche die entlarvt, die alles für bare Münze nehmen und damit herumlaufen, als wären sie es, die führen.

Mit Ironie ist den Missbrauchsvorwürfen junger Frauen gegen Lindemann aber schon lange nicht mehr beizukommen. Das erledigen die Anwälte. Sie streiten ab, dass es Missbrauch gegeben habe, dieses mehrfach beschriebene System, mit dem Frauen zu Aftershow-Partys und unter die Bühne geschleust worden sein sollen, um Lindemann gefällig zu sein, freiwillig manche, andere nicht. Sie hatten Angst vor Lindemann, sagen sie.

Es gibt die, die an der Unschuldsvermutung festhalten wollen. Sie können, was berichtet wird, nicht glauben. „Solange nichts bewiesen ist, gibt es keinen Grund, nicht zu einem Konzert zu gehen“, sagt das ältere Paar aus Frankfurt/Oder. Vor ein paar Tagen waren sie nebenan, als Grönemeyer auf der Waldbühne spielte. „Wer da mitgeht, weiß doch, dass da keine Brötchen verkauft werden“, ist sich der grauhaarige Mann sicher, der mit Frau, Tochter und ihrem Freund, beide Anfang zwanzig, aus Gelsenkirchen angereist ist. Sie hören sich das Konzert zum zweiten Mal an: „Hoffentlich sind diesmal die Plätze besser.“ Nadja aus Karlsruhe, bleiche Haut, schwarze Haare, Netzstrümpfe, hat den Besuch mit ihrem Freund lange geplant: „Wir hängen noch Sightseeing dran.“ Lindemann? „Wenn da was dran ist, werden sie ihn verurteilen“, sagt sie. Und dann? Sie zuckt mit den Schultern. „Wäre das was anderes.“ Aber was? Die meisten Fans wollen sich ihren Spaß an der Musik und der Show nicht nehmen lassen. Während für die, die online Petitionen gegen die Berliner Rammstein-Auftritte unterschrieben haben, alles eindeutig, entschieden und Lindemann schuldig ist, sind die im Stadion gegen jede Vorverurteilung und finden Gründe dafür.

Als um 20 Uhr die Show beginnt, weiße Nebel über die Bühne ziehen, schwarzer Rauch schaurig aus den Masten wie aus unheimlichen Schloten quillt, sind alle Bedenken weggewischt. 60 000 jubeln, recken die Arme vor der monumentalen Bühne, die wie eine apokalyptische schwarze Ruine aufragt. Die brutalen Riffs des „Rammlieds“ krachen in den Abendhimmel, der sich über dem Stadion zu einem verwaschenen Gelb verfärbt hat. Es ist natürlich überwältigend, rauschhaft, ekstatisch: die Kulisse, der Sound, der Gesang, die entfesselte Masse.

Und trotzdem bleibt ein Dilemma: „Rammlied“ - das klingt plötzlich noch abstoßender als früher. „Bestrafe mich“, „Du riechst so gut, ich steig dir hinterher“, selbst der „Engel“, mit dem für die ostdeutsche Band 1997 erst alles begann, hört sich nun gar nicht mehr lustig und rebellisch an, sondern wie ein trotziges Geständnis: „Gott weiß, ich will kein Engel sein.“ Was einmal genial, originell und großartig schien - neben all dem Text-Murks, den Geschmacklosig- und Peinlichkeiten, die Rammstein immer auch hervorbrachten -, es ist nun schwerer erträglich.

Ist eine Grenze überschritten worden? Haben sich das Böse, das Abgründige, das Gewalttätige aus der künstlerischen Fantasie in die trostlose, elende Wirklichkeit verlängert? Allein die Möglichkeit ist verstörend. Im Augenblick, in dem die Musik über die Menge hinwegrollt, die Flammen zum Donner des Schlagzeugs auflodern, gehen solche Fragen in der Ästhetik des Erhabenen unter.

Am nächsten Morgen gibt es neue Vorwürfe, nun gegen den Keyboarder Flake: Es geht um die Jahre 1996 und 2002. Er habe gegen ihren Willen Sex gehabt mit ihnen, sagen zwei Frauen und berichten von Filmrissen. Die Anwälte weisen alles umgehend zurück. Das habe sich nie ereignet.

Im ICE zurück von Berlin liest man das in der „Süddeutschen Zeitung“. Und fragt sich, was es zu bedeuten hatte, als Lindemann in dem grandiosen „Ohne dich“ statt „Die Vögel singen nicht mehr“ sang: „Die Sänger vögeln nicht mehr.“ War das Hohn? Ironie? Dummheit? Arroganz? Die Selbstgewissheit der Unschuld?

Es stellt sich eine Stimmung ein, als wäre Berlin das letzte Rammstein-Konzert gewesen.

Demonstranten in Berlin forderten dazu auf, Rammstein zu canceln.
Demonstranten in Berlin forderten dazu auf, Rammstein zu canceln. © picture alliance/dpa

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