Er bleibt ein Schelm

Der britische Progressive-Rock-Pionier stellte sein neues Album „Homo Erraticus“ vor – und das Beste aus seinen Jahrzehnten mit „Jethro Tull“.
Von Maximilian Steiner
Wer, außer Ian Anderson mit seinem subtil entwickelten Sinn für Spleens, Detailwissen und rabenschwarzen Humor, käme sonst noch auf die Idee, mal eben im Zeitraffer 8000 Jahre britische Historie abzuhandeln? Hochmusikalisch untermalt, versteht sich. In gewohnt filigraner Mixtur aus Blues, Jazz, Rock und Klassik. Aufgepeppt mit multimedialen Einlagen aus Filmclips, Erzählungen, Pantomimischem und Tanz.
Mit solcherlei Mitteln eroberte sich der 67 Jahre alte Instrumentalist, Komponist, Texter und Entertainer mit erstaunlichen schauspielerischen Fähigkeiten im ganz auf seinen künstlerischen Gusto zugeschnittenen Bandvehikel „Jethro Tull“ seit den späten 60er Jahren ein weltweites Millionenpublikum. Seit vergangenem Jahr ist das 1967 aus der Taufe gehobene Flagschiff des Progressive-Rock Geschichte. Zumindest namentlich.
Typische Pose
Denn „Jethro Tull“ waren stets zu 100 Prozent Umsetzer von Andersons Kreativideen. Und so tönt Ian Anderson mit seinen derzeitigen Begleitern auch bei der Aufführung seines abermals im Konzeptstil verfassten sechsten Solowerks „Homo Erraticus“, das die erste Hälfte seines Gastspiels einnimmt, ganz nach der Manier von „Jethro Tull“. Zumal der Veteran schon im Auftaktsong „Doggerland“, der die einst zwischen Kontinentaleuropa und den Briteninseln existierende Landbrücke aufs Korn nimmt, in seine typische Pose verfällt: Mit Querflöte im Anschlag hebt er sein linkes Bein auf Hüfthöhe an und lässt den unteren Teil lässig schlenkern.
Derweil sorgen auf großflächiger Leinwand immer wieder in Sepiatönen auf Stummfilm getrimmte Einspieler dafür, dass der Zuschauer auch Sinn und Witz der Story versteht: Demnach hat kein Geringerer als Gerald Bostock, jenes 1972 von Anderson für sein sarkastisches Konzeptwerk „Thick As A Brick“ ersonnene achtjährige Poeten-Wunderkind, erst kürzlich in einem Buchantiquariat die Aufzeichnungen eines gewissen Ernest T. Parritt (1873–1928), seines Zeichens Amateurhistoriker, gefunden. Parritt chronologisierte die Geschichte Großbritanniens anhand seiner sämtlichen früheren Inkarnationen als menschliche Wesen, die sich ihm in Fieberträumen in einem Schweizer Sanatorium offenbarten.
Ebenso verworren wie der rote Faden gestaltet sich die höchst virtuose Umsetzung des sperrigen Konzepts durch den Keyboarder John O’Hara, Bassist Greig Robinson, Schlagzeuger Scott Hammond, Zweit-Vokalist Ryan O’Donnell und vor allem durch den deutschen Sologitarristen Florian Opahle.
Mit Augenzwinkern
Ein imaginäres Raunen der Erleichterung geht durch den Raum, als Ian Anderson urplötzlich in den zweiten Teil übergeht: „From now on you will hear the best of ,Jethro Tull‘“, verkündet er mit schelmischem Augenzwinkern und greift nach seiner Akustikgitarre. Gleichzeitig limitiert er sein eigenes Schaffenswerk mittels Auswahl des Materials auf das der Jahre 1969 bis 1976. Als das Intro des von Johann Sebastian Bach inspirierten Instrumentalstücks „Bourrée“ ertönt, stehen viele spontan auf. Kollektive Glückseligkeit macht sich breit. Mit ausladendem Part 1 von „Thick As A Brick schickt der Meister seine Anhängerschaft in die Pause. Auf Zeitreisen mit eingeblendetem Chronometer, der die exakte Jahreszahl benennt, schickt er sie eine halbe Stunde später – abermals erstklassig umgesetzt.
Für Kabinettstückchen wie „Nothing Is Easy“ aus dem zweiten Albenwerk „Stand Up“ und den frühen Single-Veröffentlichungen „Sweet Dream“ und „Teacher“ flimmert in filmischen Archivaufnahmen der junge Anderson von einst überlebensgroß in Hintergrundprojektionen. Aus „A Passion Play“ von 1973, wo sich Anderson schon einmal mit Tod und Re-Inkarnation des Menschen auseinandersetzte, stammt „Critique Oblique“. Einmal mehr in Ausnahmezustand versetzt Anderson sein Publikum mit ironischer Analyse seines eigenen Berufsstandes: „Too Old To Rock ’n’ Roll: Too Young To Die!“.
Gleich vier Auszüge bleiben jenem Werk vorbehalten, das bis heute der größte Verkaufserfolg von „Jethro Tull“ blieb: „My God“, „Cross-Eyed Mary“, der Titelsong und die mit stürmischem Applaus begrüßte Zugabe „Locomotive Breath“ stammen allesamt aus „Aqualung“.