Irrfahrt in die Literatur
Der Musiker taucht in „Otis“ tief ein ins Großstadtleben der Gegenwart – als eine Art zeitgenössischer Odysseus.
Von Oliver Seifert
Françoise Cactus hat es getan. Markus Berges. Robert Gwisdek. Und Sven Regener. Sie alle sind ambitionierte Popmusiker, die Romane veröffentlicht haben. Vertreter der sogenannten Hamburger Schule stehen ihnen darin nicht nach. Wenn gehobene deutschsprachige Unterhaltungsmusik geht, sollte auch gehobene deutschsprachige Unterhaltungsliteratur gehen. Das ist aber leider zu kurz gedacht.
Mitten in Berlin
Jochen Distelmeyer gelang mit seiner Band „Blumfeld“ die Vertonung gedanklicher Tiefe und emotionaler Schwere so virtuos, dass sich Kritiker und Fans überschlugen. 2007 löste sich die Gruppe auf, und Distelmeyer hatte Zeit. Als einer der bedeutenden Köpfe der Hamburger Musikschule, den es vor Jahren nach Berlin zog, legt er nun seinen ersten Roman vor: „Otis“. Bezog sich der Name „Blumfeld“ auf eine Erzählung Franz Kafkas, so verweist der Titel „Otis“ auf Homers „Odyssee“ und James Joyces „Ulysses“. Mächtige Verbündete, in deren Schatten Jochen Distelmeyer seine literarische Reise unternimmt. Sie führt ihn direkt ins Berlin der Gegenwart.
Ließ Joyce seine Romanfigur Leopold Bloom einen Tag im Jahr 1904 durch Dublin irren, so irrt Distelmeyers Romanfigur Tristan Funke einige Tage des Jahres 2012 durch Berlin. Bloom arbeitet bei einer Zeitung, die Frau betrügt ihn, er ist ein Außenseiter, Funke arbeitete bei einem Verlag und kündigt, als sich die Freundin von ihm trennt. Er wird als Verlierer und Langweiler beschrieben. Bloom übernimmt Verantwortung für Stephen Dedalus, Funke kümmert sich um seine Cousine Juliane. Bloom und Funke sind moderne Updates des antiken Irrfahrers Odysseus.
Doch damit nicht genug: Distelmeyers zeitgenössischer Odysseus, der von Hamburg nach Berlin kam, auf der Suche nach seinem persönlichen Glück, das zu finden sich sehr schwierig gestaltet, beschäftigt sich obendrein noch mit Odysseus als Thema für seinen ersten Roman, an dem er gerade schreibt. Funkes Romanfigur Otis Weber ist als Programmierer einer illegalen Internet-Tauschbörse auf der Flucht. Beide irren durch ihr Leben. Funke legt vor, Weber zieht nach. Das Scheitern ist abzusehen. Auf allen Ebenen, für alle.
Die Handlung, wie sie wenig plausibel von einem Zufall in den nächsten stolpert, ist letztlich nebensächlich. Was Jochen Distelmeyer, Jahrgang 1967, gestalten will, ist ein groß angelegtes Sittengemälde der Berliner Kulturrepublik, wie sie feiert und gefeiert wird, und eine als zeitgeschichtliches literarisches Dokument getarnte fiktive Rekonstruktion von Ereignissen, wie sie waren oder hätten sein können. Es geht in breit angelegten Ausführungen um Helmut Kohl, Holocaust-Mahnmal, 9/11, Piraten oder Tierpark, um Heldentum, Liebe, Gentrifizierung, Kapitalismus und große Politik. Zeitungsschlagzeilen werden aneinandergereiht, handelnde Personen in ausgiebigen Porträts eingeführt (und als prominente Kulturschaffende kaum verfremdet vorgeführt), das Paarungsverhalten der Wespenspinne oder das Wesen des Dartspiels ausführlich erläutert.
Unentschlossen
Der Ehrgeiz, mit „Otis“ etwas Großes zu schaffen, ist auf jeder Seite zu spüren. Dieser Berlin-Roman ist eine Ansammlung von allem, was nur zu finden ist, ohne dass ein schlüssiges Bild entsteht. Die Puzzleteile ergeben einfach kein homogenes Ganzes. Distelmeyer referiert Fakten und Debatten, er konstruiert Charaktere und schnitzt Dialoge. Sein Erzählen jedoch bleibt umständlich und unentschlossen. Distelmeyer arrangiert, wo komponiert werden sollte. Das ist zu wenig, um die Irrungen und Wirrungen der modernen Existenz überzeugend aufzuarbeiten. Selbst im Verweis auf Joyces erzählerisches Experiment ist dieser Versuch missglückt.
Die Kritik seines Romans liefert Distelmeyer in klug-ironischer Voraussicht gleich mit: „Ja, da müssen Sie sich auch was einfallen lassen! Irgendeinen Knaller. So können Sie das Ding nicht durchziehen. Immer dieses Versteckspiel mit den antiken Figuren“, wird sein trauriger Held Tristan Funke von einem Verleger zurechtgewiesen. Ist der literarische Ausflug des Musikers Distelmeyer auch gescheitert, so bleibt doch Hoffnung: Ursprünglich war die Auseinandersetzung mit dem „Odyssee“-Stoff für sein zweites Soloalbum vorgesehen. Vielleicht nimmt die künstlerische Irrfahrt dort noch ein gutes Ende.
Am 4. März liest Distelmeyer um 20 Uhr im Frankfurter Mousonturm.