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Verstehen ohne Gott - Jürgen Habermas veröffentlicht sein Spätwerk

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Von: Friedrich Reinhardt

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Jürgen Habermas (90), geboren in Düsseldorf, kam 1956 an das Frankfurter Institut für Sozialforschung, begann als Forschungsassistent von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und wurde schließlich selbst zu einem Hauptvertreter der aufklärerischen Frankfurter Schule.
Jürgen Habermas (90), geboren in Düsseldorf, kam 1956 an das Frankfurter Institut für Sozialforschung, begann als Forschungsassistent von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und wurde schließlich selbst zu einem Hauptvertreter der aufklärerischen Frankfurter Schule. © dpa

Warum breitet sich in unserer Gesellschaft der Atheismus aus? Jürgen Habermas, der wirkmächtigste Philosoph unter den Lebenden, legt dar, dass sich der Wandel nicht nur aus wissenschaftlichem Fortschritt erklärt, sondern auch aus Martin Luthers Angst vor dem Teufel.

Neulich veröffentlichte das Bistum Limburg eine Broschüre: „Umnutzung und Aufgabe von Kirchen im Bistum Limburg“. Es soll eine Hilfe für kirchliche Amtsträger sein, die entscheiden müssen, ob eine Kirche aufgegeben werden soll oder nicht. Denn wegen des Mitgliederschwunds sei der Gebäudebestand zu groß. Woher kommt dieser Massen-Atheismus?

Eine Antwort à la „Wissenschaft kann die Welt gut ohne Gott erklären“, greift bei dieser Frage zu kurz. Das zeigt allein der Umfang des neuen Mammutwerks von Jürgen Habermas. Auf 1752 Seiten legt der wirkmächtigste noch lebende Philosoph dar, wie sich das Verhältnis von Glauben und Wissen im Laufe der Geschichte entwickelte. Der einstige Adorno-Schüler zeichnet dabei keine Verfallsgeschichte, tat er nie. Zwischen 1956 und 1971 war er am Frankfurter Institut für Sozialforschung und rettete die Kritische Theorie nach Adornos Resignation in der „Negativen Dialektik.“ Eine optimistische Grundannahme Habermas’ schallt auch durch das neue Werk: Entwicklungen sind Folgen von Lernprozessen, die durch „kognitive Dissonanzen“ angestoßen werden, also durch Widersprüche.

Trotz seines enormen Umfangs wirkt Habermas’ Text oft gehetzt. Als habe der 90 Jahre alte Philosoph zu wenig Zeit und Platz für das Vorhaben, das er selbst „ein so waghalsiges und unseriöses Unternehmen“ nennt, da er in seinem Alter „Bibliotheken von Sekundärliteratur“ nicht berücksichtigen könne. Dabei geht Habermas auf Werke beeindruckend vieler Philosophen, Historiker, Theologen ein. Allein der Entwicklungszeitraum, den er nachzeichnet, ist gewaltig.

Habermas beginnt beim Ursprung der Religion

Angefangen beim Ursprung der Religion: Weil Menschen schon immer in eine Lebenswelt mit anderen Menschen und ihren Ritualen hineingeboren wurden, hätten sich mit Entstehung der Sprache zugleich mythische Erzählungen entwickelt, um diese Rituale zu erklären. Rituale gab es also vor den Mythen, der Urform von Religion. Allein das ist erstaunlich. Würde man doch annehmen, dass der Glaube an einen Gott den Ritualen, mit denen dieser Gott verehrt wird vorausgeht. 

Das Cover von Habermas' zweibändigen Spätwerk "Auch eine Geschichte der Philosophie"
Das Cover von Habermas' zweibändigen Spätwerk "Auch eine Geschichte der Philosophie" © Suhrkamp

In den Zentren der ersten Hochkulturen, etwa in Mesopotamien oder Ägypten, werden die Gesellschaften ausdifferenzierter. Bald gibt es Götter für allerlei Berufsgruppen. Andere Götter werden aus eroberten Gebieten integriert. Unmöglich muss es damals für den Einzelnen gewesen sein, den Überblick über weit mehr als 100 Götter zu behalten. Daher taugten die Mythen nicht mehr als Mittel für ein „Selbst- und Weltverständnis“ – nach Habermas die zentrale Funktion von Religion und Philosophie.

Der Weg zum Ein-Gott-Glauben

So wird der Weg für monotheistische Religionen bereitet – ein Paradigmenwechsel. Denn in Mythen teilen sich Menschen und Götter noch eine Welt. Menschen pflegen mit ihnen sogar eine Art Tauschhandel, wenn sie Tiere für eine gute Ernte opfern. Eine Vorstellung von Jenseits gab da noch es nicht. Zwischen 800 bis 200 v.Chr., (Habermas bezeichnet diese Epoche im Anschluss an Karl Jaspers "Achsenzeit") bilden sich dann in allen Hochkulturen, von Europa über Indien bis China, Vorstellungen von etwas „Transzendentalem“ heraus, also etwas, das über dieser Welt steht. So ist der jüdische Schöpfergott ebenso wenig Teil dieser Welt wie Buddhas Nirwana. Der jenseitige Bezugspunkt eröffnet eine gedankliche Perspektive auf die Welt als Ganzes. Allgemeingültige Normen werden so überhaupt erst denkbar und das Handeln von Herrschern damit moralisch kritisierbar. Angesichts des Leids, das tyrannische Herrscher hervorbringen, ist Kritik ein tiefsitzendes Bedürfnis. So greifen hier gesellschaftliche Gegebenheiten und innerreligiöse Entwicklungen zusammen, damit der Monotheismus entstehen kann. 

Der Ursprung des scheinbar Selbstverständliche  

In solchen Erklärungen besteht der Reiz der Lektüre. Der Leser lernt die Ursprünge seiner für selbstverständlich genommenen Denkweisen kennen. Dabei bezieht Habermas die politischen, ökonomischen und sozialen Kontexte in seine Erklärungen ein.

Nach dem Paradigmenwechsel zum Monotheismus entwickelt sich Religion im christlichen Europa zur ersten Wissenschaft. Philosophen von Plotin bis Thomas von Aquin ringen darum, das wachsende Wissen über die Welt mit der Offenbarung zu harmonisieren. Erst Martin Luther setzt dem 16. Jahrhundert ein Ende und stößt eine säkulare Entwicklung an, die den heutigen Massen-Atheismus und damit die Broschüre des Bistums Limburg hervorbringen wird.

Luther und sein Beitrag zum Massen-Atheismus

Während Habermas oft von der geistigen Kraft der wirkmächtigen Denker schwärmt, lässt er bei Luther andere Töne anklingen. „Nicht einmal als innovativen Fortschritt“ könnten Luthers Ideen gelten. „Der volkskirchliche Hintergrund des Ringens zwischen Gott und Teufel, die robuste Rhetorik der Kampfschriften gegen Papst und Bischöfe, die Hasstiraden gegen Juden und Türken mussten die gelehrte Welt eher befremden.“

Bildnis Martin Luthers
Bildnis Martin Luthers © Frei

Luther treibt die Verweltlichung des europäischen Denkens durch die Spaltung von Glaube und Wissen voran. Habermas zeigt, wie Luthers tiefsitzende Furcht vor dem Teufel den Reformator zur Überzeugung führt, der Mensch sei von Sünde zerfressen. Ganz von Gottes Gnade abhängig, könnte er nichts zu seinem Heil beitragen. Fest im Glauben verankert konnte Luther nicht sehen, dass es ohne die „Heilsrelevanz des Schöpfergottes“ keinen Unterschied macht, ob seine Schöpfung, die Natur, als von Gott geschaffen oder nicht beschrieben wird. So trennt Luther Glaube von Moral und Wissen zugleich.

Luther verschärft das Problem noch. Während die theologischen Philosophen vor ihm versuchten, Weltwissen mit der Offenbarung zu harmonisieren, beharrt Luther auf dem Grundsatz: Nur die Bibel zählt. Damit schirmt er den Glauben von allen Einmischungen aus anderen Wissenschaften ab. Der Glaube verfängt sich so in einem „Zirkel der Selbstbestätigung“, ohne sich sinnvoll in ein umfassendes Weltbild einzuordnen. So musste Religion nach und nach die Fähigkeit verlieren, „Selbst- und Weltverständnis“ zu stiften.

Das Ende der Aufklärung

Diese Aufgabe übernimmt fortan die Philosophie. Von John Locke über Immanuel Kant und David Hume bis zu den Philosophen der Gegenwart wird die Aufklärung etwa Moral, Wissen und politische Macht auf das Fundament der Vernunft stellen. Als einen Prozess „fortschreitender Objektivierung der Welt“ versteht Habermas die von ihm nachgezeichnete Entwicklung. Dabei spricht der heute am Starnberger See lebende Philosoph Bedenken an, auch die Philosophie könne die Fähigkeit verlieren, Selbst- und Weltverständnis zu vermitteln. Dieser Anspruch droht unter die Räder der überbordenden Menge an spezialisiertem Wissen zu kommen, das die Wissenschaften heute hervorbringen. Unmöglich könnte es für Philosophen werden, das Ganze der Welt im Blick zu haben und zugleich zu zeigen, was die neuen Entdeckungen für den Einzelnen bedeuten. Es wäre das Ende der Aufklärung.

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