Krieg zerstört alle und alles

Alois Zimmermanns Musiktragödie „Die Soldaten“ wurde im Staatstheater unter der Regie des Russen Vasily Barkhatov zur bedrängenden Premiere.
Von BETTINA BOYENS
Die Botschaft wird den Zuschauern mit der Wucht von Kalaschnikows eingehämmert: Krieg und Zerstörung lässt der junge, russische Regiestar Vasily Barkhatov mitten im geschützten Wiesbadener Opernraum, dem Ort bürgerlicher Lebenskultur, explodieren und trägt damit den Schrecken in die Mitte der Gesellschaft. Dabei verlegen die Kostüme von Olga Shaishmelashvili das brutale Geschehen in ein Spannungsfeld zwischen den beiden Weltkriegen und heute. Keiner kann sich retten, weder die Zuschauer im Parkett, noch die Adeligen in der Königsloge, und schon gar nicht das gemütlich in roten Plüschsitzen versinkende bürgerliche Publikum. Diesmal sitzt der größte Teil der Zuschauer auf der Bühne und beobachtet von dort aus, wie Orchestersessel zu Soldatencafés mutieren, die Kaiserloge zum blutigen Tatort wird und ein riesiger Zeppelin hereinschwebt, samt verstörender Projektionen des zerstörten Theatergebäudes.
Lager und Lazarett
Das gesamte Parkett wandelt sich nacheinander vom Kriegslager zum tristen Soldaten-Lazarett und danach zur düsteren Leichenhalle. Marodierende Soldaten duellieren sich mit abgerissenen Theaterlüstern, Stuckverzierungen werden vom ersten Rang abgeschlagen, junge Rekruten müssen sich Tüllröcke überziehen und dienen der übergriffigen Soldatenschar („Götter wir sind“) als Frauenersatz, kurzum: Das Grauen ist derart realistisch, dass man sich nicht wundern würde, wenn echte Terrorkommandos das Feuer eröffneten (Bühne: Zinovy Margolin). Mit dieser aufwühlenden Sicht auf seine gigantische Antikriegsoper „Die Soldaten“ hätte sich der 1970 aus dem Leben geschiedene Bernd Alois Zimmermann sicherlich angefreundet. Führt der Ansatz des 32-jährigen Vasily Barkhatov doch radikal fort, was der Komponist zur Uraufführung 1965 seines Opus Magnum in Köln wollte: totales Theater, in dem selbst das Publikum mobil mit einbezogen sein sollte. In Barkhatovs Sicht wird die zerstörte Psyche des gefallenen Bürgermädchens Marie, erzählt nach dem Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz, die eigentlich den bürgerlichen Stolzius liebt, sich dann aber, angestachelt vom ehrgeizigen Vater, von adligen Offizieren umwerben lässt und zur verachteten Hure wird, einmalig erfahrbar. Der ruinös inszenierte Theaterbau ist dabei furchtbares Sinnbild dieses vergewaltigten „Frauenzimmers“.
Anrührend in ihrer stimmlichen und seelischen Ausdrucksvielfalt singt Gloria Rehm die naive Marie, die in jeder Szene mit ihrem Spiel atemlose Spannung erzeugt. Ihr Geliebter Stolzius, den Holger Falk überzeugend verkörpert, steht unter dem unguten Einfluss seiner Übermutter, auftrumpfend gesungen von Andrea Baker. Hervorragend besetzt sind auch sämtliche Soldaten-Partien, allen voran Martin Koch als Desportes und Joachim Goltz in der Rolle des Feldpredigers Eisenhardt.
GMD Zsolt Hamar und Subdirigent Benjamin Schneider erzeugen vom ersten Orchesterschlag an eine unwiderstehliche Sogwirkung, an der über 200 Instrumente beteiligt sind. Changierend zwischen Zwölftonmusik, Bachorgelklang, Jazzrhythmen und wuchtiger Marschmusik überwältigt die Komplexität aus dem Orchestergraben auch heute noch. Einziger Wermutstropfen: Gute Sicht hat nur, wer auf den unteren Rängen und der Bühne sitzt. Alles, was sich in der Kaiserloge abspielt, wird für das Publikum auf dieser Seite zum „Hörspiel“. So bestimmte das Thema „Haben Sie etwas gesehen?“ viele Gespräche nach der Vorstellung. Da wäre technische Nachbesserung nötig.
Wiesbaden hat mit dieser „schweren“ Riesenoper, die für jedes Haus eine logistische Herausforderung bedeutet, klar gezeigt, dass es mit den Maifestspielen mehr bieten will als heitere Frühlingsunterhaltung. Am Ende gab es dafür herzlichen Applaus für alle Beteiligten.