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Im Dong Xuan Center in Berlin herrscht exotische Blumenpracht. In dem Einkaufszentrum betreiben viele Vietnamesen ihre Läden.
Im Dong Xuan Center in Berlin herrscht exotische Blumenpracht. In dem Einkaufszentrum betreiben viele Vietnamesen ihre Läden. © Kiên Hoàng Lê

Für die letztjährige Architektur-Biennale in Venedig betreuten drei Kuratoren aus Frankfurt den deutschen Beitrag. Der ist nun auch im DAM zu sehen.

Ein Getto ist und bleibt ein Getto. Aber es bietet viele Vorteile für Neuankömmlinge, von der günstigen Miete bis zum helfenden Netzwerk. Doch wer einen guten Job ergattert hat, zieht schnell weg in „bessere“ Stadtviertel. Das Getto ist also, wenn alles gut läuft, auch eine Integrationsmaschine. Das ist in Kurzform die These des kanadischen Journalisten Doug Saunders, der schon Slums auf der ganzen Welt aufgesucht hat.

Bauen für morgen

Auf seine Recherchen stützten sich auch Peter Schmal, Oliver Elser und Anna Scheuermann, als sie den deutschen Beitrag für die Architektur-Biennale in Venedig von Mai bis November 2016 betreuten. „Making Heimat. Germany, Arrival Country“, so der Ausstellungstitel, wurde lange vor der Flüchtlingswelle 2015 konzipiert, erhielt aber dadurch eine ungeahnte Aktualität. Nun ist die Schau bis 10. September auch zu Hause, im Frankfurter Architekturmuseum, zu sehen, wo das Trio arbeitet – Schmal ist der Chef.

Für die Präsentation in Deutschland wurde die Schau erweitert und präzisiert, ergänzt und aktualisiert. Im Erdgeschoss werden Saunders’ acht Thesen an deutschen Städten illustriert, ergänzt vom Schwerpunkt Offenbach. Im ersten Obergeschoss wird das in Venedig nur gestreifte Thema der Flüchtlingsbauten an 57 bundesweit realisierten oder noch in Bau befindlichen Projekten belegt. Der Ausblick gilt dem Problem des bezahlbaren Wohnens, das sich durch den Zuzug von Einwanderern noch verschärft hat und für zusätzliche Spannungen sorgt.

Fragen an die Politik

Also eine politisch brisante, aber höchst informative Schau. Die Flüchtlingsfrage muss zwar von Politikern beantwortet, von Stadtplanern und Architekten aber frühzeitig bedacht werden. Wenn es freilich nach Doug Saunders geht, sollte auch die Stadtplanung und das Bauen den Einwanderern überlassen werden. Das ist allerdings Saunders problematischste These von der informellen Stadt, in der mehr geduldet wird als erlaubt ist. Das Dong Xuan Center in Berlin ist sein Paradebeispiel, wo mehr als 1000 Menschen, vorwiegend aus Asien, ihre Geschäfte haben, vom Jeansladen über den Friseursalon bis zum Restaurant. Aber viele der Bauten und der Arbeiter sind illegal.

Anderes überzeugt da schon eher, vieles verblüfft auch. Den höchsten Ausländeranteil hat nämlich nicht Berlin (12,6 Prozen), auch nicht Ludwigshafen (20,6) oder Frankfurt (25,7), sondern Offenbach (30,2 Prozent). Doch die Integrationsmaschine funktioniert. Offenbach hat die höchste Fluktuation bei den Einwanderern, in der Kriminalität liegt die Stadt nur im mittleren Bereich.

Ohnehin bietet die Stadt schon seit 130 Jahren etwas, was neuerdings von der Politik gefordert und gefördert wird: das urbane Wohnen. Offenbach wurde für die Industrie gebaut, nicht fürs Wohnen. So gibt es noch heute zahlreiche lange und tiefe Blöcke, die zur Straße hin Platz für Läden bieten, während in den Hinterhöfen Handwerker und Kreative angesiedelt sind. In den Etagen darüber finden sich günstige Mietwohnungen; zwei Zimmer mit 70 Quadratmetern kosten zum Beispiel 574 Euro, in Frankfurts Holzhausenstraße hingegen 1029 Euro.

Ohnehin soll das unselige Trennen von Wohnen, Arbeiten und Freizeit, schon 1933 in der „Charta von Athen“ festgeschrieben, nach dem Willen der Bundesregierung bald aufgehoben werden durch eine Lockerung der Bebauungsvorschriften. Das tut man bereits bei den Flüchtlingsbauten, wie der Rundgang zeigt. Hier geht es um schnelles und kostengünstiges Bauen, nicht um große ästhetische Würfe. So wurden leere Bürohäuser umgebaut und kleine Dörfer aus Containern oder Holzmodulen errichtet. Doch einige Ideen fallen auf. In München wurde ein Parkplatz mit einem 100 Meter langen und fünfgeschossigen Haus überbaut – jetzt wohnen hier 129 Flüchtlinge und Hartz-IV-Empfänger, darunter parken die Autos. Und in Kassel wurde ein Massivbau in fünf Monaten errichtet, der später auch Studenten oder Geringverdienern angeboten wird.

Allerdings haben die Politiker die Zeichen der Zeit viel zu spät erkannt. Nun meint auch Bundesbauministerin Barbara Hendricks, dass jedes Jahr mindestens 350 000 neue Wohnungen nötig seien, um den sozialen Zusammenhalt nicht zu gefährden. Mit Verdichtung und Aufstockung, gelockerten Baustandards, Modulbauten und Selbst(aus)bau ist schon viel zu erreichen, wie das DAM an zehn neuen Projekten zeigt.

Variable Wohnungen

In Bremen etwa werden in bestehenden Wohnvierteln die Brachen erkundet und mit viergeschossigen Kuben bebaut, mit variablen Wohnungen zu Mieten von 6,50 bis 11 Euro pro Quadratmeter. Und in Frankfurts Platensiedlung, wo einst die US-Armee hauste, werden die dreigeschossigen Bauten um zwei Etagen aufgestockt, und es werden neue Querriegel gebaut, sodass Wohnraum für insgesamt 700 Menschen entsteht – für 10 Euro Kaltmiete.

Deutsches Architekturmuseum, Schaumainkai 43, Frankfurt. Bis 10. September, dienstags und donnerstags bis sonntags 11–18 Uhr, mittwochs 11–20 Uhr. Eintritt 9 Euro. Biennale-Katalog und Flüchtlingsbauten-Atlas je 9,80 Euro. Telefon (069) 212-388 44. Internet

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