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Melancholie war sein Grundgefühl

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Gottfried Benn am Arbeitstisch. 1951 wurde er in Darmstadt mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt.
Gottfried Benn am Arbeitstisch. 1951 wurde er in Darmstadt mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt. © akg-images

Als Lyriker ein Gigant, als moralische Gestalt fragwürdig: Der Weltverächter Gottfried Benn zählt zu den größten deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts. Zeit, ihn wieder mal zu lesen.

Am Abend saß er gern in der Kneipe, beobachtete, brütete und – trank. Bier. Der Stoff galt ihm als erlesen: „Welch gewaltiger Schritt der Natur / Bis zum Gerstensaft!“, dichtete er in seiner nie gedruckten „Bierode“ (1935). Der Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten liebte den Rausch, das Mürbewerden in schlaflosen Nächten, die düsteren Stimmungen der Erschöpfung. Und den Aufschwung: „von Bier zu Bier /die große Linie der Menschwerdung / Hallelujah, Pröstchen!“ Am 7. Juli 1956, vor 60 Jahren, starb in Berlin der Dichter Gottfried Benn, an Krebs, 70 Jahre alt – als Lyriker ein Gigant, als moralische Gestalt fragwürdig.

Herkunft? Lebenslauf? „Unsinn! Aus Jüterbog oder Königsberg stammen die meisten, und in irgendeinem Schwarzwald endet man seit je“, schnodderte Benn. Tatsächlich stammte er aus einem Pfarrhaus in Brandenburg, studierte in Marburg Theologie, brach ab und wurde Arzt in Berlin. 1,69 Meter groß, wuchtiger Schädel, schon früh dünne Haare, hängende Lider. Bei seinem Tod wog er 80 Kilo. Blutbild im oberen Normbereich, weiß sein Biograf Holger Hof. Hölderlins Blutdruck? Goethes Leberwerte? An dergleichen war Benn interessiert. Aus Verfall, Verwesung und Vergänglichkeit machte er seine ersten kleinen Lieder. Das war 1912, Benn Mitte 20.

Pest und Gestank

„Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt. / Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhelllila Aster / zwischen die Zähne geklemmt. /Als ich von der Brust aus / unter der Haut / mit einem langen Messer / Zunge und Gaumen herausschnitt, / muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt /in das nebenliegende Gehirn. / Ich packte sie ihm in die Brusthöhle / zwischen die Holzwolle, / als man zunähte. / Trinke dich satt in deiner Vase! / Ruhe sanft, / kleine Aster!“ Gottfried Benn stieg in die Katakomben hinab, in die Sektionssäle und die Krebsbaracken. Und was er ans Licht brachte, war nicht wahr, schön und gut, sondern hässlich, morsch und hinfällig. Der Gedichtzyklus „Morgue“ sang von Pest und Gestank, von jungen Ratten in zerfallenen Brustkörben, von Geschwür und Verwesungsgerüchen, von der Würdelosigkeit des Todes. „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“: Zwei Jahre nach der literarischen Sensation „Morgue“ brach der Erste Weltkrieg aus. Benn erlebte ihn als Militärarzt in der Etappe.

Aus diesen Gedichten sprach nicht die morbide Lust an Aas und Elend, sondern eine existenzielle Erfahrung der Trostlosigkeit, die sich für Benns Generation in dem Philosophen Friedrich Nietzsche verkörperte: Gott ist tot. Die obersten Werte sind entwertet. Der Sinn ist abhanden gekommen, der Himmel leer. Alles stürzt und schwankt. Der Nihilismus stand für Benn nicht mehr vor der Tür, er war längst eingetreten und verwüstete das Haus des Seins. Überall Asche, Zerstörung, Untergang. Und Kunst. Benn flüchtete vor der Sinnverödung ins Ästhetische, in die Artistik des Gedichts, die Flut der Bilder, das provozierte Leben. Melancholie war sein Grundgefühl, Trauer, Abschiedsstimmung, Abendröte – eine metaphysische Schwermut: „Wer“, schrieb er an seinen Freund F. W. Oelze, „wie ich alle Scalen von Missstimmungen, inneren und äußeren Dyspepsien, Verfallslagen, Gebrochenheiten, tiefsten Depressionen, unsagbaren Zerstörtheiten kennt, der . . .“ Ja, was?

Der taumelt von Abgrund zu Abgrund. Benn begrüßt die Machtübernahme der Nazis. In Reden und Essays schwafelt er von Zucht und Züchtung, von dorischen Tempeln und dem Kolonnenschritt der braunen Bataillone. Großmäulig fantasiert er sich zum Staatsdichter und Ästheten der Macht. Benn kanzelt die Emigranten ab, sieht sich getragen von der Welle einer historischen Urgewalt. Die begräbt ihn schnell. 1934 erwacht er aus der Trunkenheit: „Ich kann nicht mehr mit. Schauerliche Tragödie! Wie groß fing das an, wie dreckig sieht es heute aus.“ Die Nazis, „Morgue“ noch im Ohr, heißen ihn „Kulturbolschewist“, „Ferkel“, „widernatürliches Schwein“. 1938 erhält er Schreibverbot. Den Zweiten Weltkrieg „überwintert“ er als Arzt in der Wehrmacht, kehrt zurück in die Trümmer Berlins. Seine Zweite Frau Herta begeht aus Angst vor der Rache der Roten Armee 1945 Selbstmord. Benn arbeitet wieder als Arzt. Als Schriftsteller hat er es schwer, wieder Fuß zu fassen. Seine NS-Parteinahme versucht er, in dem autobiografischen Bericht „Doppelleben“ zu rechtfertigen. Er bleibt gemieden.

Einer jedoch ist an seiner Seite und öffnet ihm Türen: F. W. Oelze, steinreicher Sohn einer Bremer Kaufmannsfamilie, Goethe-Kenner, konservativer Bildungsbürger, Sammler, Hobby-Pianist und -Dichter. 1932 nimmt er, nachdem er Benns Aufsatz „Goethe und die Naturwissenschaften“ gelesen hat, mit dem Dichter Kontakt auf und wird ein rückhaltloser Bewunderer. Weit über 1000 Briefe gehen bis zum Tod 1956 hin und her. Zu persönlichen Begegnungen kommt es selten. Benn verbittet sich Besuche.

Erstmals ist im Wallstein-Verlag jetzt in vier Bänden der nahezu komplette überlieferte Briefwechsel erschienen. Bislang waren nur Benns Briefe an Oelze ediert. Sie gelten längst als allererste Quelle für das Verständnis des Dichters und seines Werks. Nun kann man zwei sich als Geistesaristokraten gerierende Männer in ihren Rollenspielen beobachten. Noch mehr sind die Briefe aber ein ungeheuer spannendes zeithistorisches Dokument. Benn hat hier vieles ausprobiert, was dann in seine Gedichte, Novellen und Essays einging.

Strophen, Katastrophen

Benn bleibt die zerrissene Gestalt eines Jahrhunderts der Extreme, der sich als monologisch Einsamer stilisierte, als einer, der die Schwerter hielt und aus den Katastrophen die Strophen barg – Kunst, an niemanden gerichtet, an niemanden gesandt. Er war ein Hochmütiger und Höhnischer, ein Ausdruckskünstler, der das Dissonante zusammenzwang und die Leser betrunken machte mit seinen melancholischen Träumen und düster blühenden Schattenwelten. Ein Spötter und pessimistischer Verächter: „Europa, dieser Nasenpopel aus einer Konfirmandennase!“ Benn lebte eine statische Existenz, die sich an inszenierten Seelen- und Bewusstseinszuständen berauschte: „Zu- und abreisen ist das Zeichen einer Welt, die nicht klar sieht.“

Seine Gedichte, seine Prosa, seine Briefe, sein abgeklärtes und doch so trauriges Weltschmerzparlando zählen zum Aufwühlendsten und Schönsten, was aus der fürchterlichen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhalten ist. Niemand hat das treffender und mit einer bei Benn selbst abgelauschten Ironie formuliert als der Lyriker Peter Rühmkorf: „Die schönsten Verse der Menschen, nun finden Sie schon einen Reim!, sind die Gottfried Bennschen.“ Else Lasker-Schüler, eine der vielen Geliebten des Frauenverführers Gottfried Benn, nannte ihn „Prinz“, „König“ und – „Barbar“.

Gottfried Benn, F. W. Oelze: „Briefwechsel 1932–1956“, Wallstein-Verlag, vier Bände, 2334 Seiten, 199 Euro

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