Moses Pelham darf „kurz klauen“

Karlsruhe sagt: Es gibt Umstände, unter denen sich Künstler ungefragt im künstlerischen Werk anderer bedienen dürfen. Doch das letzte Wort ist nicht gesprochen.
Fast zwei Jahrzehnte währte der Streit: Es war 1997, als Moses Pelham, 1971 in Frankfurt geborener Rapper und Platten-Produzent, einen zwei Sekunden langen Tonschnipsel von „Kraftwerk“ einem Song von Sabrina Setlur unterlegte – und damit etwas Eigenes schuf. Das zumindest war seine Sicht, und deswegen sah er auch keinerlei Grund, die Elektropop-Band um Erlaubnis zu fragen. Genau das aber vermissten die Düsseldorfer Sound-Tüftler und klagten sich durch alle Instanzen. 2012 schließlich sprach der Bundesgerichtshof in Karlsruhe ein vermeintlich letztes Wort in dem Prozess um einen Klangschnipsel aus dem Jahr 1977: Pelham durfte das Lied „Nur mir“ nicht publizieren. Doch gestern urteilte das Bundesverfassungsgericht: So klar ist die Sache nicht. Der Fall muss neu entschieden werden.
Freiheit oder Eigentum?
In seinem Urteil zum „Sampling“ in Hip-Hop und Rap hält das Bundesverfassungsgericht die Kunstfreiheit hoch. Vize-Gerichtspräsident Ferdinand Kirchhof begründete das Urteil damit, dass die Gerichte der Kunstfreiheit nicht hinreichend Rechnung getragen hätten. Er verwies auch auf die Kürze der Sequenz. Daraus sei ein neues, eigenständiges Kunstwerk entstanden – ohne dass „Kraftwerk“ dadurch wirtschaftlichen Schaden habe. Ein Verbot würde „die Schaffung von Musikstücken einer bestimmten Stilrichtung praktisch ausschließen“, sagte er. (Az. 1 BvR 1585/13)
Die BGH-Richter waren der Ansicht, dass ein fremder Beat – und sei er noch so kurz – nur einfach kopiert werden darf, wenn er nicht gleichwertig nachgespielt werden kann. Dieses Kriterium halten die Verfassungsrichter für ungeeignet. Für die Benutzung müsse auch nicht unbedingt Geld fließen. Die Richter weisen aber darauf hin, dass der Gesetzgeber auch eine Bezahlpflicht einführen könnte. Außerdem schlagen sie dem BGH vor, den Fall dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen, weil das Urheberrecht seit 2002 EU-weit harmonisiert ist.
Diese EU-Richtlinie berücksichtige die Interessen der Tonträgerhersteller eher als das deutsche Recht, sagte „Kraftwerk“-Anwalt Winterhoff. Insofern habe er durchaus Hoffnung, dass der BGH am Ende in Hütters Sinne entscheide. Sein Kollege Hermann Lindhorst betonte, dass Hütter den umstrittenen Beat vor langer Zeit „mit seiner Kreativität, mit seinem Einsatz, auch mit seinem Investment“ entwickelt und eingespielt habe. „Er möchte diese Leistung auch berücksichtigt sehen.“
Pelham, der mit anderen Produzenten und Musikern geklagt hatte, zeigte sich im Gerichtssaal erleichtert über die Entscheidung des Verfassungsgerichts. „Ich glaube, dass es für die Fortentwicklung der Kunst ein sehr, sehr wichtiges Urteil ist“, sagte er. Alle Menschen, die wie er Musik machten, bringe das einen großen Schritt weiter.
Eine Frage des Anstands
Sein Gegner vor den Gerichten, „Kraftwerk“-Mitbegründer Ralf Hütter, hatte früher geäußert, es hätte sich in einem solchen Fall gehört, zum Telefonhörer zu greifen und anzurufen. Zur Urteilsverkündung war Hütter nicht mehr nach Karlsruhe gekommen. Seine Anwälte deuteten das Urteil naturgemäß anders als Pelham. „Aus unserer Sicht beginnt das Spiel nun von vorn“, sagte Christian Winterhoff. Der BGH müsse den Fall nun noch einmal bewerten. Das Ergebnis bleibe abzuwarten.
Florian Drücke, Geschäftsführer des Bundesverbands Musikindustrie in Berlin, war zur Urteilsverkündung nach Karlsruhe gereist. Auch er nimmt eine abwartende Haltung ein: In diesem Streit gehe es schließlich „um zwei Künstler, die sich nicht einigen konnten – in einem Umfeld, in dem man sonst durchaus zur Einigung kommt“, unterstrich er den persönlichen Hintergrund des Gerichtsstreits. Zwischen „Kunstfreiheit“ und dem „Eigentumsgedanken“ sei stets im Einzelfall abzuwägen.
Dieser Zeitung sagte Drücke, dies sei ein Fall von „Jura am Hochreck“, in dem das Bundesverfassungsgericht die Sache vornehmlich deshalb an den BGH zurückverwiesen habe, weil es mit dessen Verständnis von „Kunstfreiheit“ nicht zufrieden gewesen sei. Auch hätten die Karlsruher Richter in ihrem 40 Seiten langen Urteil diverse Fingerzeige in Richtung des Europäischen Gerichtshofs gegeben: Immerhin gehe es sehr grundsätzlich darum, wie mit Musik im digitalen Raum umzugehen sei.
Eine komplexe Abwägung, die erklären mag, dass andere Musiker, wie Pelhams Frankfurter Kollegin Namika („Lieblingsmensch“), kein Statement zum Urteil abgeben möchte. Auch Ralf Hildenbeutel, ein großer Name im Musikgeschäft, seit der Produzent vor Jahrzehnten DJ Sven Väth groß herausbrachte, weiß um die heikle Abwägung, die hier getroffen werden muss: „Man muss nämlich differenzieren, in dem vorliegenden Fall handelt es sich um einen wirklich sehr kurzen, rein rhythmischen Schnipsel, der keinen prägenden Teil wie eine Melodie oder einen bestimmenden Sound des Stückes von Sabrina S. ausmacht. Somit finde ich das auch schwer vergleichbar mit den Musiksequenzen, die zum Beispiel ,Coldplay‘ von ,Kraftwerk‘ benutzten.“
Was ist relevant?
Der Frankfurter, der Ende der 90er für Künstler wie Laith Al-Deen, Andreas Bourani, Yvonne Catterfeld und Simon Collins Songs schrieb und bis heute Alben und Filmmusik produziert, weiß aus eigener Erfahrung: „Ich bin ja selbst als Urheber für ein starkes Urheberrecht, kann aber trotzdem in diesem Fall das Urteil von heute durchaus nachvollziehen. Natürlich verstehe ich auch Ralf Hütter, der zumindest gerne gefragt worden wäre, eine Frage des Anstands eben. Doch es geht nicht immer nur um das reine Prinzip, um Schwarz oder Weiß, sondern es muss auch um Relevanz gehen. Ich selbst kenne das zu gut, es wurde so oft von meinen Produktionen gesampelt und ,geklaut‘, gerade in den 90ern, aber ich habe immer erwogen, ob das wirklich relevant war – und am Ende meistens keine rechtlichen Schritte unternommen.“
Der Streit Pelham gegen „Kraftwerk“ sei „kein genereller Präzedenz-Fall und ,Freischein‘ für freies Samplen. Es wird nach wie vor fallunabhängig erwogen werden müssen.“
So bleiben am Ende viele Fragen offen: „Vielleicht wissen wir in zwei Jahren mehr“, sagt Florian Drücke und verweist auf das, was menschlich doch naheliegend ist: Auch in Zukunft sei man „weiterhin gut beraten, wenn man sich miteinander ins Benehmen setzt“.
(wol,dpa)