Querdenker und Provokateur
Alfred Grosser gilt als Spezialist für deutsch-französische Fragen. Am 1. Februar wird der Umstrittene 90 Jahre alt. Offen und direkt sagt der Politologe, was er über Israel und über die Pegida-Bewegung denkt.
Von Sabine Glaubitz (dpa)
Hinter dem stets freundlich wirkenden Gesicht verbirgt sich ein politischer Kritiker, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Nicht immer hat sich Alfred Grosser dadurch Sympathien eingehandelt. Der Intellektuelle, der zu einer Institution des deutsch-französischen Geistes geworden ist, befindet sich zwar im Ruhestand. Doch wenn es darum geht, dem Zeitgeschehen den Puls zu fühlen, ist Grosser, der am Sonntag, 1. Februar, 90 Jahre alt wird, heute noch ein viel gefragter Beobachter und Analyst.
Gleich nach den Pariser Anschlägen auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ und nach der Anti-Terror-Großdemonstration tauchte der französische Publizist mit deutsch-jüdischen Wurzeln wieder als politischer Beobachter in der Öffentlichkeit auf. In einem Interview des deutschen TV-Senders 3sat verurteilte er den Solidaritätsmarsch als Heuchlerparade. Er habe es als lächerlich empfunden, dass an der Demonstration für Pressefreiheit Politiker aus Ankara und Moskau teilnahmen. In der Talkschau „Menschen bei Maischberger“, zu der auch ein Vertreter der „Alternative für Deutschland“ (AfD) eingeladen war, schlug Grosser kräftig zu, als er die AfD und Pegida in Nazi-Nähe rückte. „Wenn jetzt immer vom christlich-jüdischen Abendland gesprochen wird, dann wird mir als Jude regelrecht schlecht. Das Abendland, das sie verteidigen, wollte Hitler auch schon. Also bitte nicht das Abendland überspannen.“ Die AfD rücke immer mehr an Pegida heran, und da sei Rassismus nicht fern. Grosser war noch nie ein Leisetreter. In der heißen Debatte um die Israel-Kritik von Günter Grass in dessen politischem Gedicht „Was gesagt werden muss“ aus dem Jahr 2012 stellte er sich auf die Seite des deutschen Schriftstellers. In dem Gedicht forderte Grass Deutschland auf, keine U-Boote mehr an Israel zu liefern, weil sonst das iranische Volk ausgelöscht werden könnte. Die israelische Regierung provoziere, befand Grosser und unterstützte den Literaturnobelpreisträger. Als Antisemit wird Grosser seit langem kritisiert. Nicht erst seit seinem 2009 erschienenen Buch „Von Auschwitz nach Jerusalem“, in dem er den Deutschen erklärt, warum sie kritischer mit Israel umgehen sollen. Ein Blick auf seine Biografie mag helfen, seine kritische Haltung zu erklären. Grosser, der 1925 in Frankfurt geboren wurde und 1933 nach Frankreich emigrierte, ist knapp fünf Jahre später zum Katholizismus konvertiert.
Grosser hat über 30 Bücher geschrieben. In den meisten versucht er, den Franzosen Deutschland zu erklären und den Deutschen Frankreich. Wie wichtig er für die deutsch-französische Verständigung in den vergangenen Jahrzehnten war, zeigen die vielen Ehrungen und Auszeichnungen. Doch auch hier hält er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. Das deutsch-französische Verhältnis sei keine Liebesbeziehung, sagte er 2013 in einem Interview in Paris. Als Frankreichs Präsident Charles de Gaulle 1963 den Élysée-Vertrag unterschrieb, den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, sei es ihm nicht in erster Linie um Annäherung gegangen, sondern darum, Deutschland mit dem Vertrag aus dem Machtbereich der USA herauszuholen.