Temperament statt Altersweisheit: Andrés Orozco-Estrada trieb in der Alten Oper

Der Chef des HR-Sinfonieorchesters war für Zubin Mehta eingesprungen. Andrés Orozco-Estrada empfahl sich für Wien.
„Da hat sich schon der Brahms erschrocken!“ Mit diesem Satz beruhigen die Wiener Philharmoniker ihre Gäste, wenn die alte Holzbühne, die im goldenen Musikvereinssaal für die wunderbare Akustik sorgt, mal wieder vernehmlich knarzt. Brahms und die Philharmoniker sind miteinander verwachsen. Bis heute klingt, wenn die Philharmoniker Brahms spielen, wie jetzt in der Alten Oper, deshalb etwas Authentisches mit, Tradition wird so auch zur Hypothek. Zumal für jüngere Dirigenten.
Andrés Orozco-Estrada, der als Chef des HR-Sinfonieorchesters in Frankfurt wohlbekannte (in Wien ausgebildete und künftig dort wieder musizierende) Kolumbianer, stand anstelle des erkrankten Zubin Mehta am Pult, Temperament also anstelle von Altersweisheit, hochmotivierter Ehrgeiz statt gelassener Rückschau, und weniger Inspiration aus dem Moment heraus als kalkulierender Eifer.
In den vorderen Reihen konnte zuerst die Klangbalance nicht befriedigen. Der wunderbar homogene, samtene Streicherklang stand wie eine Phalanx vor den im (nicht genügend erhöhten) Rückraum sitzenden Bläsern, die sehr groß besetzte erste Violingruppe verschattete schon die weiter hinten platzierte zweite. Das herrliche Oboensolo im „Andante sostenuto“ von Brahms 1. Sinfonie kam nur mäßig zur Entfaltung. Überhaupt hätte der langsame Satz, der Brahms’ Wanken zwischen Zweifel und Freude zum Ausdruck bringt, mehr singen, mehr schwelgen, zwischen dunklen und hellen Farben, unterscheiden können; Orozco-Estrada schlägt jedoch eher rhythmisch als die Musik phrasierend zu steuern. Das Verhältnis von akademischer Perfektion und mystifizierter Unsicherheit bleibt gerade bei dieser Sinfonie, dem nach langem Zaudern in die Welt entlassenen Erstling eines immerhin schon 43-jährigen Erfolgskomponisten, stets ein Balanceakt; das Bekenntnis „Siehe, ich verkünde euch ein Geheimnis“, das Brahms im „Deutschen Requiem“ unvergleichlich vertonte, überschreibt – hier instrumental – auch diese Sinfonie, vor allem die Rahmensätze, vom ängstlich pochenden Anfang bis hin zum hymnisch impulsiven Finale.
Leonard Bernsteins „Candide“-Ouvertüre hatte fröhlich lärmend das Programm eröffnet. Die Kombination passte, denn für den Amerikaner waren Brahms’ Sinfonien mit „sinfonischem Dynamit“ geladen. Der Stoff explodierte jedoch erst beim zugegebenen Ungarischen Marsch.
Das Publikum jubelte.