Zerstörte Seelen
Ein pralles Psychodrama: Regisseur Christof Loy inszenierte, Generalmusikdirektor Sebastian Weigle dirigierte Bergs „Wozzeck“ an der Oper Frankfurt.
In Alban Bergs Oper gibt es einen Narren. Es ist die kleinste Rolle und völlig unbedeutend. Judith Weihrauch steckt den Countertenor Martin Wölfel in ein unmögliches Kostüm, kurze Hosen mit Tweed-Jacket, Rauten-Socken, Brille, Fliege und Hut. Am Schluss, Marie ist tot und Wozzeck auch, nimmt der Narr dem verwaisten Knaben (Edward Jumatate) die letzten Worte aus dem Mund: Hopp-hopp-hopp. Dazu gehören eigentlich ein Schaukelpferd und Abgründe unschuldiger Ahnungslosigkeit. Der reine Tor, wie Wagners Parsifal!
Selbstgerecht und zynisch
Schon während der packenden 90 Minuten zuvor war dieser Narr öfter als im Text vorgesehen auf der Bühne, als Spitzel, Einflüsterer, ein zeitloser Eckensteher, der dem „Wozzeck“-Stoff Perspektiven in die Gegenwart öffnet. Es geht hier ja auch um das ganze, noch immer aktuelle Arsenal seelenkundlicher Weltdeutung einer ängstlichen Gesellschaft. Ihre Führungsfiguren spielen sich besserwisserisch, selbstgerecht und zynisch in den Vordergrund: Schon immer zu kurz gekommen, spinnen und faseln sie über hochtrabende Wissenschafts-Ideen (der Doktor Alfred Reiters), Moral (Peter Bronders schneidiger Hauptmann), Frivolität (Katharina Magieras Margret), Unbeholfenheit (Martin Mitterrutzner als Andres) Liebesprahlerei (Vincent Wolfsteiner als heldentenoraler Tambourmajor) – man kennt das beinah alles auch aus den aktuellen Debatten.
Georg Büchners fragmentarisches Drama über den Leipziger Mörder Johann Christian Woyzeck schlug 1836 ein neues Kapitel Kriminalgeschichte auf. Ist ein geistig kranker Mensch schuldfähig? Klar, dass diese Frage in den psychoanalytisch fiebernden 20er Jahren – Alban Bergs Oper wurde 1925 in Berlin uraufgeführt – große Aufmerksamkeit erregte. Regisseur Christof Loy wiederum fragt, was Berg wohl an dem (von Karl Emil Franzos erst 1879 zugänglich gemachten) Stoff interessierte. Der Regisseur liest Büchner und dessen Gewährsmann, den Mediziner Johann Christian Clarus, neu. Er blendet die Rezeptionsgeschichte aus, die allzu schnell Opfer und Täter dingfest macht, Rollen und Bilder verfestigt.
So fällt neues Licht auf Wozzeck und die von ihm eifersüchtig beäugte Geliebte Marie. Vorgeführt wird eine von Sehnsucht geprägte Beziehung, deren Unfähigkeit zur Zärtlichkeit blitzschnell in Gewalt ausarten kann. Zivilisatorische Errungenschaften wie Maß und Contenance gibt es nicht, man ertappt sich dabei, diese Unbedingtheit, die zum Schluss scheitern muss, sogar sympathisch zu finden. In Loys Lesart erregen Wozzeck und Marie jedoch Mitleid. Er ist krank, sie in den Verhältnissen gefangen. In Alban Bergs Musik klingt das oft schrill, grell und unwirtlich und plötzlich wieder lyrisch oder melancholisch, Weltschmerz-Musik wie von Gustav Mahler.
Visionäres Leuchten
Sebastian Weigle befeuert die Dynamik, zieht mit dem konzentriert folgenden Opern- und Museumsorchester alle Register. Audun Iversen (in Jeans und orangefarbenem T-Shirt) und Claudia Mahnke (im liebesroten Allerweltskleid) ebenso: Man kann nicht anders, als bewundern, wie diese beiden Sänger hier in Wut, Angst und Geschrei ausbrechen und dort übergangslos ihre Stimmen zärtlich und visionär zum Leuchten bringen können.
Abgründe will Christof Loy aufzeigen, Abgründe der Seele, aus denen auch Sehnsüchte nach einem normalen Leben, nach Fest und Feier und gesellschaftlicher Akzeptanz erwachsen. Herbert Murauer stellt dafür einen betongrauen Bühnenkasten zur Verfügung, bisweilen durch Zwischenwände (die sich bedrohlich näherrücken können) aufgeteilt in drei Räume, auch mal mit offener Rückwand. Vieles erinnert dabei an Loys „Così-fan-tutte“-Inszenierung von 2008, eine Oper, die ebenfalls vom Glatteis amouröser Anfechtungen handelt.
Schwarze Vorhänge gliedern die Szenen episodenhaft, wie ja auch Berg seine expressionistische Ausdrucksmusik klar und streng strukturiert, durch Formen wie Sonate, Suite oder Fuge. Scheinbar zufällig arrangieren sich lebende Bilder mit dem Chor (Einstudierung: Tilman Michael) wie Malereien von George Grosz oder Otto Dix; die schwarzweiß ausgeleuchtete Mordszene im Schilf könnte auch in einem der Scherenschnitt-Filme Lotte Reiningers vorkommen. Gemordet wird sinnlos und in artifizieller Distanz. Das unbekümmerte Hopp-Hopp des Kindesnarren versucht am Schluss, bevor die Musik in einer „Invention über eine gleichmäßige Achtelbewegung“ versandet, Ursache und Wirkung unter den Teppich zu kehren. Absichtlich unbeholfen und vergeblich. Ein praller, atemberaubender, anregender Abend – so findet es auch einhellig das Publikum.