Zwischen Leben und Tod erfasst einen der Schwindel

In der Reihe „Film und Musik“ spielte das HR-Sinfonieorchester die Musik zu dem Hitchcock-Film „Vertigo“ live in der Alten Oper Frankfurt.
Die Szene lässt einem das Blut in den Adern gefrieren: Eine junge Frau hetzt den Turm einer Kirche hoch in der offensichlichen Absicht, ihrem Leben ein Ende zu bereiten und zu springen. Was sie schließlich auch tut. Hinter ihr her stürmt ein Mann mit dem Vorhaben, sie an der Tat zu hindern. Er leidet aber an Höhenangst. Der anfänglich geschilderte Effekt tritt vor allem auch ein wegen der Musik, die diese Szene untermalt: schnell tremolierende Geigen und eine nervöse Rhythmik. Score-Komponist Bernard Herrmann, ein Amerikaner, wusste, wie man Stimmungen musikalisch suggestiv erzeugt, und schuf mit der Filmmusik zu „Vertigo“ (Schwindel), Untertitel „Aus dem Reich der Toten“, ein Meisterwerk, geschickt instrumentiert, raffiniert komponiert und völlig farbenreich arrangiert.
Frank Strobel am Dirgierpult des HR-Klangkörpers arbeitete all die Qualitäten der Partitur hervorragend heraus, disponierte das opulent besetzte Orchester in vorbildlicher Weise. So hatte der Besucher in der Alten Oper gleich zwei synästhetische Reize: Hier noch einmal der Film von 1958 auf Großleinwand, dort das live spielende Orchester. Anders als bei den letzten Projekten dieser Art in der Alten Oper, als man Hollywood-Blockbuster wählte, nun also ein filmisches Werk, das mit Suspense und psychologischem Feingefühl arbeitet.
Es sind weniger die vordergründigen Schockeffekte wie in Hitchcocks Kinowerken „Die Vögel“ oder „Psycho“ eingesetzt, denn die subtilen Untertöne, die die Hauptfiguren James Stewart als Akrophobie-gepeinigter Polizist John „Scottie“ Ferguson und Kim Novak als selbstmörderische Madeleine Elster, die glaubt ihre eigene Urgroßmutter zu sein, an den Tag legen. Die Titel der einzelnen Stücke führen auch semantisch durch das Geschehen: „Prelude and Rooftop“, „Scotty Trails Madeleine“ und „Carlotta’s Portrait“ führen einfühlsam in den 130 Minuten langen Psychothriller ein. Das Vexierspiel um Leben und Tod, um Schein und Sein zwischen zwei Liebenden erreicht seinen Höhepunkt, wenn das Orchester in mächtigen Tutti-Schlägen seine ganze Binnenspannkraft musikalisch einsetzt und die Dramatik des Geschehens bei „The Nightmare And Dawn“ suggestiv unterstützt. Selten haben Bild und Musik im Film sich gegenseitig so sinnlich ergänzt.
Hierzulande immer ein wenig unterschätzt, erweist sich Komponist Herrmann als großer Sinfoniker mit Weitblick und Sinn für die dramaturgische Linie des zu vertonenden Stoffes. Ästhetisch ist der Film sehr opulent und nahezu perfekt inszeniert, die Wahn-Sequenz mit dem nach Madeleines Tod durchgedrehten Scottie ist künstlerisch fein gemacht, und die berühmten Zoom-Effekte sind technisch brillant, berücksichtigt man den Umstand, dass der Film vor mehr als einem halben Jahrhundert gedreht wurde. Was die Erzeugung von Beklommenheit betrifft, hatten die Ausführenden ganze Arbeit geleistet.