Auf den Spuren der Familie Hirsch

Amerikanische Ehepaare wollen mehr über jüdische Vorfahren erfahren
Wehrheim -Vier Stunden haben die aus den Vereinigten Staaten von Amerika angereisten Ehepaare Wendy Schmelzer/Robert Goldstein sowie Naomi und John Schmelzer im frühsommerlichen Wehrheim verbracht. Stunden, die der Spurensuche und dem Austausch gewidmet und die für alle Beteiligten berührend und anregend waren. Auf Einladung des Projekts "Jüdisches Leben Frankfurt am Main" und dessen Initiatorin Angelika Rieber hatten sich die Nachkommen auf die weite Reise in die Vergangenheit ihrer Vorfahren gemacht.
Die Großstadt am Main nebst Umland und Nachbarkommunen sind Wirkstätten der jüdischen Familie gewesen, auch Ausgangsorte ihrer Flucht vor NS-Verfolgung und drohender Ermordung. Wendy und John Schmelzer haben die Frankfurter Zeil gesehen, wo Großvater Gustav Ehrenfeld ein Spezial-Kaufhaus für Radio und Fotografie aufgebaut hatte, sie waren in der Offenbacher Marktstraße, dem einstmals dort angesiedelten Textilhandel nachspürend. Auch Hanau als Standort des bekannten und 1938 verwüsteten Bekleidungshauses "Berger & Schmelzer" war ein Ziel des Programms.
Von besonderer Bedeutung für die Gäste aus Santa Monica und Washington DC aber ist die Taunusgemeinde Wehrheim. Hier steht noch immer das familiäre Stammhaus am alten Platz, fast unverändert, sofort wieder erkennbar - als wäre die Zeit stehen geblieben.
Stammhaus
am alten Platz
1855 hat Nathan Hirsch nahe bei Rathaus und gegenüber der Evangelischen Kirche das Anwesen mit der alten Hausnummer 171 gekauft - um dort fortan ein Ladengeschäft für Möbel und Textilien zu führen. Sohn Jakob übernimmt das Erbe in den 1880er Jahren. Es ist die Wohn- und Arbeitsstätte, in der Jeanette Hirsch - zweite Ehefrau des Jakob - ihre Kinder Cornelie, Eugenie, Friedrich, Bertha und Erna aufwachsen lässt. Die zweitälteste Tochter Eugenie, seit 1914 verheiratet mit Leopold Schmelzer, wird schließlich zur Großmutter von Wendy und John Schmelzer.
Im Juni 2022 ist der Platz hinter dem Rathaus auch ein Treffpunkt für Gäste und Gastgeber. Die Schmelzer-Paare und Angelika Rieber treffen dort auf Wehrheims Geschichtsvereinsmitglieder Susanne Kolass, Michaela Reese und Stefan Velte. Mit von der Partie sind noch Uta Heidenfelder-Beeck und Pfarrer Matthias Laux - beide jenem örtlichen Arbeitskreis angehörend, der ein lokales Denkmal auf den Weg bringen möchte. "Es ist wichtig, an das jüdische Leben inmitten des Dorfes zu erinnern, an die lange Zeit des selbstverständlichen Miteinanders", sagt Wendy Schmelzer zu dem geplanten Vorhaben.
Unverbautes
Erscheinungsbild
Nur wenige Schritte in Richtung Stadttor - und schon ist die ehemalige Synagoge erreicht. Auch hier erstaunt der ansehnliche Erhaltungszustand des Gebäudes, das unverbaute Erscheinungsbild. 1845 wird das heute denkmalgeschützte Haus errichtet, dreizehn Jahre später das im Anbau integrierte Heiligtum feierlich geweiht. Während der 1920er Jahre betreibt Johanna Hirsch, Enkelin des Kultusgemeinde-Vorstehers Samuel Hirsch, im Wohnbereich eine Hutmacherwerkstatt mitsamt Lebensmittelverkauf.
All dies ist Gegenstand ausführlicher und intensiver Gespräche. Und weil das Interesse an der Historie des jüdisch-christlichen Wehrheims groß ist, gerät auch das Areal rund um das Stadttor mit den ehemaligen Hofreiten der Familien Rosenberg, Katz, Wehrheim, Rosenthal und Flörsheimer in den Blick. Schnell wird klar, dass der sonntägliche Besuch für alle Beteiligten zu einem der wichtigsten Termine im Jahreskreis wird. Nach einer Rast im Obergeschoss des Rathauses - Sitz und Archiv-Standort des Geschichtsvereins - geht es über die engere Dorfgrenze hinaus, bis vor das Gelände des außerhalb gelegenen Freibads.
Der jüdische Friedhof ist die abschließende Station, bevor die beiden Paare zurück nach Frankfurt fahren. Längst sind nicht mehr alle Grabsteine vorhanden - die Ruhestätte von Familienbegründer Jakob Hirsch hat sich nur als fotografisches Abbild erhalten. Eingeschlossen ins Erinnern ist die Schmelzer-Urgroßmutter Jeanette Hirsch, die zuletzt in Frankfurt gewohnt hat, im August 1942 ins Lager Theresienstadt verschleppt und umgebracht wurde. Ihre Kinder und Enkel konnten sich zuvor ins Ausland absetzen, retteten das bloße Leben.
Dankbar für die Forschungsarbeit des Vereins und dessen Aufarbeitung jüdischer Ortsgeschichte, überreichen die Geschwister Schmelzer eine Spende, nehmen die von Michaela Reese recherchierten Stammbäume, auch das unverzichtbare "Wehrheimer Häuserbuch" in Empfang. "Dieses Treffen", so das Resümee von Susanne Kolass, "war gelungen, wichtig und gut." Es soll nicht das letzte seiner Art gewesen sein.
