Bad Homburg: Der Mensch ist ein bösartiges Tier

Lesung mit Pistole im Anschlag: Ben Becker zelebriert Joseph Conrads Roman „Herz der Finsternis und entführt beim Literatur- und Poesiefestival in die Abgründe der Seele.
Diese Stimme. Tief, sonor, rauchig - schon nach dem ersten Satz hat Ben Becker, dieser kernige Kerl, das Publikum in seinen Bann gezogen. Und da ist er noch nicht mal auf der Bühne. Aus der Dunkelheit heraus raunt er: „Jeder Mensch hat seinen Zerreißpunkt.“ In seinem unverwechselbaren Timbre hört man ihn weiter sagen: „Die meisten von uns kennen ihn nicht, aber die Wildnis kennt ihn.“ Becker erzählt dann von Dämonen, von denen man nicht wusste, dass es sie gibt. So lange, bis sie einen heimsuchen.
Was für ein fulminanter Beginn seiner szenischen Lesung von Joseph Conrads Erzählung „Herz der Finsternis“ beim 14. Literatur- und Poesiefestival vor den gut gefüllten Rängen des Kurtheaters. Dann erst taucht der Mime überhaupt auf der Bühne auf. In olivgrüner Uniform tritt er ins Scheinwerferlicht und nähert sich dem Tisch, der übersät ist mit allerhand Nippes; eine Kamera projiziert den Krimskrams auf eine Leinwand hinter Becker: Fotos, Comic, Pistole - und zwei Ravioli-Konserven. Becker wendet seinen wuchtigen Körper dem Publikum zu, langsam öffnet er die Dose. Aber nein, von den kalten Nudeln kostet er nicht. Stattdessen geht er zu seinem Platz und haucht Worten Leben ein. Doch einhauchen trifft es nicht ganz. Eher entfesselt er einen Sprachsturm.
Das Bühnenbild erinnert an einen Atomschutzbunker, Becker hat vor sich ein Mikrofon, das seine Stimme auf ein Tonbandgerät bannt. Das passende Ambiente für sein Programm „Apokalypse“. Der polnisch-britische Autor Conrad veröffentlichte sein Werk 1899. Regisseur Francis Ford Coppola nahm den Roman zur Vorlage für das Antikriegsepos „Apokalypse Now“ aus dem Jahr 1979. Filmemacher Coppola wählte aber Vietnam als Schauplatz.
Er raunt, poltert und schwitzt
Becker, mit den kurz geschnittenen roten Haaren, nimmt die Zuhörer nun mit auf die abenteuerliche Reise des britischen Kapitäns Charlie Marlow durch den Kongo. Von Abenteuerlust getrieben - Landkarten faszinierten ihn schon als Kind - heuert er auf dem Dampfer einer belgischen Handelsgesellschaft an. Seine Mission: den schwarzen Fluss hinaufzufahren, mitten hinein in den Dschungel, wo der Handelsagent Kurtz als brutaler Herrscher in seinem eigenen Reich lebt. Ihn soll Marlow aufspüren und in die Zivilisation zurückbringen, doch stattdessen reißt ihn Kurtz immer tiefer hinein in seinen seelischen Abgrund.
Denn dieser Roman, darauf weist auch Bernd Hoffmann, künstlerischer Leiter des Festivals, eingangs hin, ist kein klassischer Abenteuerroman in der Manier von Jack London. In martialischen Szenen prangert Joseph Conrad die Ausbeutung der Schwarzen durch die belgischen Kolonialherren an, die Gräuel und den Zivilisationszerfall in Schwarzafrika. Es geht um Elfenbeinhandel, Rassismus und Sklaverei - um „das Grauen, das Grauen!“ („The Horror, the Horror!“), wie es im wohl berühmtesten Satz aus „Herz der Finsternis“ heißt.
Der Künstler taucht ab in die Dunkelheit
Becker, der exzessive Provokateur, steigt hinab in die Abgründe der Seele. Das mucksmäuschenstille Publikum - sogar die Handys schweigen - spürt den Schauder, den wohl auch der Mime fühlt, während er die Zeilen zelebriert, hinter dem einfachen Holztisch, die Pistole und die Dosenravioli vor sich.
Die Nackenhaare stellen sich beim Zuhören auf, wenn Becker die plastisch-drastische Sprache Conrads zum Leben erweckt; wenn er Sätze liest, die wie Donnerhall nachklingen, etwa „Der Mensch ist ein bösartiges Tier, das ausgerottet werden muss.“ Er raunt, poltert und schwitzt dabei, jedes Wort scheint er direkt aus den Untiefen seines fülligen Körpers herauszupressen. Was für ein Kraftakt! Becker ist versunken in das Werk, völlig entrückt. - als hätte ihn der Roman
Seine markante Stimme nimmt das Publikum mit auf die Reise dieses Kapitäns Marlow, der sich voller Abenteuerlust nach Afrika begibt, einen Dampfer auf Flüssen steuert, die sich durch den Urwald schlängeln, und der sich dann im Dschungel seiner Seele verirrt. Marlow wird bald angesichts der monströsen Gräuel an den Indigenen von der seelischen Finsternis seiner Kolonialherren regelrecht verschlungen, spätestens dann, als er Kurtz, das personifizierte Böse, kennenlernt - der im Film „Apokalypse Now“ kongenial von Marlon Brando verkörpert wird.
Fast hat man etwas Angst, dass Becker, der sich mal selbst als Sensibelchen, als „Panzer aus Porzellan“, bezeichnet hat, ein bisschen zu tief in die Finsternis hinabgestiegen sein könnte - und den Weg nach draußen nicht mehr findet. Denn am Ende kommt es vollends zur Eruption dieses menschlichen Vulkans: Er zieht sein Hemd aus, entblößt seine tätowierten Oberarme und sitzt dann da, regungslos und zusammengesunken, im schwarzen Unterhemd, die Pistole in der Hand. Plötzlich geht das Licht aus, und Becker versinkt in der Dunkelheit. Stille.
Doch keine Sorge, der Schauspieler ist dem Sog in die Dunkelheit entkommen: Als der Scheinwerfer wieder angeht, das Publikum laut johlt und ihn mit frenetischen Standing Ovations würdigt, ist er wieder im Hier und Jetzt angekommen.
Auf den Schrecken seiner Worte folgt pure Erleichterung, ja fast infantile Freude. Es habe vorher Probleme mit der Technik gegeben, erzählt er nun im Plauderton, und er sei einfach nur erleichtert, dass alles geklappt habe. Fast entschuldigend fügt er hinzu, dass er demnächst auch mal wieder leichtere Stoffe präsentieren wolle. Doch auch „böse Geschichten müssen erzählt werden“, sagt er, um der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Warum nur haben die Menschen so wenig dazugelernt seit Joseph Conrad?