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Bad Homburger Entwicklungshelferin Stella Deetjen: Die Berührbare

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Mittendrin: Unter dem Leitgedanken „Hilfe zur Selbsthilfe“ unterstützt Stella Deetjen die Ärmsten der Armen - und zeigt sich nahbar
Mittendrin: Unter dem Leitgedanken „Hilfe zur Selbsthilfe“ unterstützt Stella Deetjen die Ärmsten der Armen - und zeigt sich nahbar © NATASCHA HEIDENREICH

Es begann mit den Lepra-Kranken, den „Unberührbaren“: Seit 25 Jahren hilft Stella Deetjen den Armen in Nepal und Indien - mit viel Empathie und ohne Scheu. Was hat sie in dem Vierteljahrhundert erreicht? Eine Bilanz.

„Die letzten 25 Jahre waren sehr intensiv. Ich musste alles sehen. Die guten und die tragischen Seiten.“ Wer hätte gedacht, dass sich die Sache so entwickelt? Entwicklungshelferin Stella Deetjen jedenfalls nicht. Im Büro ihres Vereins „Back to Life“, auf ihrer kleinen roten Couch kann sie - voller Stolz - Bilanz des vergangenen Vierteljahrhunderts ziehen.

Als sie Anfang der 1990er Jahre, mit Anfang 20, eine Rucksacktour durch Asien unternahm, hatte sie eigentlich einen exakten Plan von ihrer Zukunft: Ihr Fotografie-Studium wartete in Rom auf sie. Aber dann begegnete sie dem leprakranken Musafir in Varanasi, Indien, der ihr Leben für immer veränderte. Deetjen sah Musafir und die anderen in der Nähe des heiligen Flusses Ganges sitzen, dem die Hindus heilende Kräfte zusprechen. Da saßen also hundert Leprakranke, mit monströs entstellten Gesichtern und fehlenden Gliedmaßen. Sie waren die „Unberührbaren“, von der Gesellschaft ausgestoßen, und warteten bloß noch auf ihren Tod, ihnen konnte das Wasser des Ganges jedenfalls nicht mehr helfen. Viel wusste Deetjen nicht über diese Krankheit, die sie eigentlich nur aus der Bibel kannte. „Und man konnte so etwas damals ja auch nicht so einfach googeln“, witzelt sie mittlerweile. Heute würde eine kurze Recherche im Internet ergeben, dass Lepra mit Antibiotika geheilt werden kann. Man würde erfahren, dass für eine Ansteckung längerer enger körperlicher Kontakt nötig ist. Stella Deetjen wusste das alles damals nicht.

Trotz der Entstellungen hatte sie keine Berührungsängste. Die junge Frau wollte Musafir kennenlernen, der so hilfsbereit gewesen war, als sie sich, von Bauchschmerzen geplagt, kurz hinsetzen musste. Und so kam sie in Kontakt mit den Vergessenen - und entschied zu bleiben. Sie baute eine Straßenklinik für Leprahilfe auf, und ihr Bruder gründete 1997 den gemeinnützigen Verein „Back to Life“.

Projekte in einer vergessenen Welt

Im Jahr 2008 beschloss Deetjen, dass sie ihre Aktivitäten nach Nepal ausweiten wollte, einem der ärmsten Länder der Welt. Von den Ausgestoßenen in Indien reiste sie also zu den Vergessenen in Nepal. Wer an Nepal denkt, dem kommen das Himalaya-Gebirge und bunte Gebetsfahnen in den Sinn. Aber ansonsten taucht das zweithöchste Land der Erde recht selten in den Medien auf. Im Jahr 2009 reiste das Team von „Back to Life“ zum ersten Mal nach Mugu in die Provinz Karnali. Mugu liegt im Hochgebirge und war damals vom Rest des Landes abgeschnitten. Bis heute sind einige Dörfer nur zu Fuß erreichbar, was eine medizinische Versorgung deutlich erschwert. Es erschien Deetjen beinahe mittelalterlich dort, erinnert sie sich heute, so ohne Strom, mit Menschen, die am offenen Feuer zu Hause arbeiteten und ohne sanitäre Anlagen oder fließendes Wasser lebten. Da war Stella Deetjen nun, in dieser Welt mit einer völlig anderen Kultur und Bräuchen, die hier nur schwer nachvollziehbar sind. So wollte sie sich bei ihrer Ankunft in Mugu erst einmal ein Bild davon machen, wo Hilfe nötig sein würde, - und wurde vom Ausmaß des dort noch vorherrschenden Geisterglaubens überrascht. Sie lernte Sushila kennen, die ihr bereitwillig von ihrem Alltag berichtete. Was Deetjen erfuhr, machte sie fassungslos. So gelten Frauen während ihrer Periode oder bei der Geburt als „unrein“, weil sie bluten. Sie dürfen sich in dieser Zeit nicht im Haus aufhalten, um den Zorn der Götter nicht auf die Familie zu ziehen. Vielmehr werden sie gezwungen, in dieser Zeit in dunklen Kuhställen oder im Wald zu leben. Bis zu 14 Tage nach der Geburt müssen die Mütter und ihre Säuglinge alleine an diesen schmutzigen Orten überstehen, was die hohe Sterblichkeit erklärt.

Deetjen war klar: Sie musste daran etwas ändern. Sie beschloss, Geburtshäuser zu bauen und junge Frauen zu Hebammen auszubilden.

Zugang zu Bildung und fließendem Wasser

Doch dafür brauchte sie die Unterstützung der Einheimischen, ein heikles Unterfangen. Deetjen sprach mit den Schamanen der Dörfer. Sie fanden einen Kompromiss: Die Geburtshäuser enthalten keine Gottesbildnisse und dürfen deswegen von den Frauen betreten werden. Die Hebammen bringen ihr Wissen zurück in die Orte - getreu dem Motto von „Back to Life“: Hilfe zur Selbsthilfe.

„Wir zaubern nichts da hin“, sagt Deetjen. „Zum Beispiel, wenn wir eine Schule bauen, dann soll sich jeder im Ort beteiligen. Jeder Haushalt soll einen Vertreter schicken. Dann kann sich am Ende auch jede Familie mit der Schule identifizieren, weil sie das Werk aller ist.“

Doch damit ist es nicht getan, erzählt Deetjen. „Wenn man eine Schule baut, dann heißt das nicht, dass die Kinder dann auch zur Schule gehen. Also muss man sichergehen, dass die Familie genug Geld hat, um ihre Kinder zur Schule zu schicken.“ So leben die Menschen dort insbesondere von der Landwirtschaft. „Wir würden ihnen also einmalig Samen geben, um die Sache anzukurbeln.“

Schon jetzt kann Stella Deetjen Erfolge sehen. Mittlerweile sind die Hälfte der Schulkinder Mädchen. „Das war vor zehn Jahren noch nicht so. Wir bauen aber fleißig weiter Schulen.“ In neuen Projekten, wie „Plastikfreie Dörfer“, geht es insbesondere um erneuerbare Energien und Umweltschutz, was mit Hilfe von Kindern erreicht werden kann. „Die Kinder nehmen ihr Wissen nämlich mit nach Hause, und so erreichen wir die Erwachsenen.“ Der Verein plant etwa Aktionstage, an denen Kinder beispielsweise ihr Dorf aufräumen.

Jedes Jahr hält eine neue Herausforderung bereit, denn: „Ein Programm bringt immer das Nächste.“ Deetjen ist es ebenso wichtig, vor Ort die Trinkwassersysteme auszubauen - wieder mit Hilfe der Einheimischen: „Nächstes Jahr werden wir 150 Kilometer verlegt haben. Das ist Handarbeit, ein Graben, den die Menschen selbst buddeln müssen. Die Nepalesen sind so stark und herzlich“, schwärmt Stella Deetjen. Nepal sei ein Land, das vielen Umwälzungen trotzen musste. Dort herrscht große Armut, und auch politisch habe sich das Land in stetem Wandel befunden. Aber ihren Mut hätten die Menschen nie verloren, sagt Deetjen. Viele Nepalesen müssen sich aber auch als Gastarbeiter verdingen, etwa in Katar. Nicht jeder kehrt von solchen Touren wieder zurück.

So hat Deetjen die Lage in Katar schon seit über zehn Jahren kritisch verfolgt: „Viele wissen gar nicht, was mir bei jedem Flug nach Nepal bewusst ist“, sagt sie. „So fliegt in jedem Flugzeug zumindest eine Leiche mit nach Nepal zurück.“

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