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Heilmittel oder Placebo für die Ambulanzen?

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Von: Andreas Burger

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Ohne Not in die Notaufnahme: Die Ambulanzen ächzen unter Personalmangel und Patienten, die Kapazitäten binden wegen Bagatellen. Eine Reform soll die Notaufnahmen entlasten.
Ohne Not in die Notaufnahme: Die Ambulanzen ächzen unter Personalmangel und Patienten, die Kapazitäten binden wegen Bagatellen. Eine Reform soll die Notaufnahmen entlasten. © picture alliance/dpa

Neues Leitsystem für Notrufe und integrierte Notfallzentren an mehr als 400 Kliniken: Der Bund will die Ambulanzen mit einer Reform entlasten. Experten aus dem Hochtaunus üben nun teils scharfe Kritik an dem Vorhaben.

Hochtaunus -Auf der einen Seite groß gelobt, auf der anderen strikt abgelehnt. Die sogenannte Reform der Notfallversorgung im Gesundheitswesen wird diskutiert wie kaum ein anderes Thema. Um was geht’s eigentlich? Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat Anfang November das Konzept vorgestellt. Wer derzeit die 112 wählt, landet in der Leitstelle. Dort sitzen Fachleute mit fundierten notfallmedizinischen Kenntnissen und versuchen im Gespräch abzuklären, ob es sich tatsächlich um einen Notfall handelt, der einen Rettungswagen und möglicherweise einen Notarzt erfordert - oder ob die Schnittverletzung durchs Apfelschälen auch am nächsten Tag vom Hausarzt behandelt werden kann. Vorweg: Im Zweifel kommt der Rettungswagen - aber dazu später mehr.

Niedergelassene Ärzte einbinden

Was nun als stärkste Änderung geplant ist: Niedergelassene Ärzte werden in dieses System eingebunden. Dafür müssen für das Modellprojekt SaN (Sektorenübergreifende ambulante Notfallversorgung) der ambulante und der stationäre Sektor sowie die Rettungsdienste verzahnt werden.

Das Modellprojekt besteht aus drei Elementen: Erstens werden die Zentralen Leitstellen der Kreise und die der Kassenärztlichen Vereinigung technisch miteinander verknüpft. Zweitens werden die Partnerpraxen an das Klinikkapazitätsplanungssystem IVENA angeschlossen. Drittens wird eine Software eingeführt, mit der eine einheitliche medizinische Ersteinschätzung der Fälle durchgeführt wird. Der Bundesgesundheitsminister will also, dass Notfallpatienten beim Anruf bereits eingeschätzt werden, eventuell auch „telemedizinische“ Hilfe erhalten und von den Fachleuten am Telefon entweder in eine Praxis gesandt oder in eine Klinik gebracht werden - je nach Einschätzung. Diese integrierten Notfall-Zentren bestehen dann aus der Notaufnahme des Krankenhauses, einer Notfallpraxis sowie dem „Tresen“ - Leitstelle - als zentrale Entscheidungsstelle.

Was der Bund als große Neuerung verkündet, sieht Ärztekammerpräsident Dr. Edgar Pinkowski als „alten Wein in neuen Schläuchen“ und empfiehlt das in Hessen gängige System als bundesweite Blaupause.

Denn bereits seit März 2022 sind im hessischen Modellprojekt „Sektorenübergreifende ambulante Notfallversorgung“ neue Strukturen zur Notfallversorgung gelebte Realität. „Das Modellprojekt wurde von Praktikern für Praktiker gemacht. Im Gegensatz zur Reform, die im Elfenbeinturm von Ministerium und beratenden Kommissionen entstanden ist“, betont Pinkowski.

Dass eine Reform notwendig ist, daran zweifelt niemand. Weder Kreisbrandinspektor Carsten Lauer - zuständig für die Leitstelle - noch Dr.Cornelius Gurlitt vom Notfallaufnahmezentrum der Hochtaunus-Kliniken. Denn allüberall sind die Kliniken überlastet, vor allem die Notaufnahmen. Nur die Ansätze für die Reform sehen anders aus.

Komplett bei den Kliniken ansiedeln?

Für Lauer ergibt die Reform nur Sinn, wenn auch der ärztliche Bereitschaftsdienst mit abgedeckt wird. Der springt derzeit ein, wenn der Hausarzt schon geschlossen hat und der medizinische Grund keinen Notarzt rechtfertigt. Und Dr. Gurlitt sieht auch die Möglichkeit, das komplette Szenario der Notfallversorgung gleich ganz bei den Kliniken anzusiedeln - dann mit eben dem zusätzlichen Personal und dem Geld, das derzeit für den Bereitschaftsdienst eingeteilt ist.

Und für beide Fachleute hat das alles sowieso nur Sinn, wenn die großen Personallücken geschlossen werden. Denn sowohl bei Fachärzten als auch bei Pflegepersonal und den Rettungskräften klaffen personelle Löcher, die derzeit mit Überstunden - bis zu 600 schieben manche Mitarbeiter vor sich her - geschlossen werden. Sprich: Eine Reform ist nur so gut, wie sie auch mit Personal gefüllt werden kann. Lauer sieht noch ein personelles Problem. „Mit dem Modell werden an den dann verknüpften Leitstellen Arbeitsplätze nötig. Wie sollen diese besetzt werden, wenn wir schon jetzt kaum die Schichten besetzt bekommen?“

Da Hessen sowieso schon ein anderes Modell als die anderen Bundesländer fährt, ist Lauer sicher, dass das Ganze nur funktioniert, wenn die bisher vorhandenen integrierten Leitstellen mit eingebunden werden. „Aber Dreh- und Angelpunkt bleibt das Fachpersonal. Kliniken, Bereitschaftsdienste, niedergelassene Ärzte und Rettungsdienste graben sich schon jetzt gegenseitig Personal ab.“ Und in Hessen schätzten die Disponenten der Leitstelle schon heute richtig ein, welcher Patient wie zu versorgen sei.

Eine richtige Breitseite gab’s für den Plan gar von der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen, bei der die niedergelassenen Ärzte - Facharzt oder Hausarzt - Mitglieder sind. Im Zentrum der Kritik: Diese sogenannten Integrierten Notfallzentren (INZ), die in allen Krankenhäusern der erweiterten und umfassenden Notfallversorgung (rund 420 Häuser in Deutschland) verpflichtend eingerichtet und die faktisch unter Krankenhausleitung gestellt werden sollen.

Vorstandsvorsitzender Frank Dastych erklärt: „Für uns ist ganz klar: Das bisherige Kooperationsmodell in und mit den Kliniken und die spätere Überführung in die SAN-Strukturen ist ohne Alternative. Der Bereitschaftsdienst der Vertragsärzte bleibt in deren Verantwortung. Etwas anderes ist mit der KVH definitiv nicht zu machen.“

Zwangsdienste für Ärzte?

Denn: Die als „Notnagel“ ins Lauterbach’sche Konzept eingebundenen Ärztinnen und Ärzte leiden schon heute nicht unter Beschäftigungslosigkeit. Jeder zusätzliche Patient durchs neue System wirbelt den Plan durcheinander, Termin-Patienten stehen hinten an.

Die KV betont: „Es ist doch eine abstruse Vorstellung, dass KV-Mitglieder, die sich originär um ihre Patienten kümmern, in solchen Einrichtungen zusätzlich und offenkundig als Laufburschen der Krankenhäuser Zwangsdienste leisten sollen. Wer so versucht, eine dringend notwendige Notdienstreform, primär der Krankenhäuser, nur orientiert an den Interessen von Großklinik-Lobbyisten und privaten Krankenhaus-Konzernen durchzuführen, zeigt noch einmal, wie wenig er vom Gesundheitssystem verstanden hat.“

Niemand werde ein bis zwei Nacht- und Wochenenddienste pro Woche zusätzlich zur Praxistätigkeit akzeptieren. Dass die Notfall-Abteilungen und Rettungsdienste generell überlastet sind, liege aber zu einem guten Teil auch an den Patienten selbst. Denn zum einen nutzen Menschen die Notfall-Einrichtungen auch als Ersatz für Untersuchungen, auf deren Termin sie, etwa beim Orthopäden, monatelang warten.

Dr. Gurlitt hat auch noch einen anderen Grund für die Zunahme der „Notfälle“ ausgemacht: die persönliche Einschätzung des eigenen Körpers. „Wir hatten schon Notfallpatienten, die sich nur den Zeh gestoßen hatten - aber den Schmerz als so gravierend empfanden, dass sie sich einliefern ließen.“

Diese Zunahme kennt auch Carsten Lauer. Denn so manche Einsatzfahrt wäre nicht nötig und blockiert nur Rettungsdienste und Notaufnahmen. „Aber heute kann sich jeder im Internet bei Dr. Google informieren, welche Symptome er angeben muss, damit der Krankenwagen kommt.

In der Klinik selbst stellt sich dann heraus, dass mit dem Bauchweh vielleicht nur eine Darmspiegelung angestrebt wird, auf die der Patient beim Facharzt derzeit lange wartet.“ Keine Regel, aber auch keine Ausnahme.

Kosten und Zeit, die unnötig sind. Und sie könnten dem Patienten als Missbrauch angerechnet werden. Wird es aber nicht, wie die AOK erklärte. Das wäre zu viel Aufwand, also zahlt die Kasse grundsätzlich weiter alle Einsätze.

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