Kleine Denkmäler gegen das Vergessen

Gunter Demnig verlegt sieben neue Stolpersteine: vor Möbel Meiss und der Villa Renaissance - Gespräch mit Zeitzeugin in der Maria-Ward-Schule
Bad Homburg -Auf einem Knie, den Rücken krumm, hockt der Mann auf dem Boden. Bei flüchtiger Betrachtung wirkt es so, als würde er sich verbeugen, und in gewisser Weise tut er das auch. Fünf Steine klopft Gunter Demnig vor dem Möbelhaus Meiss in der Louisenstraße in den Boden. Sanft, denn die Oberseite ist beschriftet. Fünf Namen stehen auf dem Messing. Sie gehören Menschen, die einst hier gewohnt haben. Fünf Schicksale stehen dahinter. Von Mitbürgern, die von den Nationalsozialisten aus ihrem Zuhause vertrieben wurden.
Mehrere Dutzend Menschen beobachten Demnig, wie er einen Stein neben den anderen setzt. Er hat das schon oft getan. Mehr als 100 000 Steine hat der Künstler größtenteils selbst seit dem Jahr 1992 in ganz Europa verlegt - 73 davon in Bad Homburg. Die Stolpersteine erinnern an das Schicksal von Menschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, vertrieben, deportiert, ermordet oder in den Suizid getrieben wurden.
„Jeder Stein ist ein Mahnmal. Gegen das Vergessen und gegen die Anonymität der Opfer. Sie geben den Menschen ein Gesicht“, sagt Stadtverordnetenvorsteher Dr. Alfred Etzrodt (CDU) zu Beginn der siebten Stolpersteinverlegung in Bad Homburg. Am Denkmal des hebräischsprachigen Literaturnobelpreisträgers Samuel Joseph Agnon, der zwischen 1921 und 1924 in Bad Homburg gewohnt hat, erinnert Etzrodt an die „lebendige jüdische Gemeinde“, die es einst in der Kurstadt gegeben habe. „Wer seine Bücher liest, weiß, wie tief verwurzelt die jüdische Gemeinde in Bad Homburg gewesen ist“, sagt Etzrodt. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 endete das - die letzten jüdischen Bad Homburger wurden 1942 deportiert.
Freiheit ist nicht selbstverständlich
Auch der jüdische Metzgermeister und Hotelier Isaak Miltenberg und seine Familie waren Teil dieser Gemeinde. Zusammen mit dem Vorsitzenden der Initiative Stolpersteine Bad Homburg, Wolfram Juretzek, und dem Rabbiner Shalom Rabinovitch, der am Denkmal im Kurpark für die Verstorbenen gebetet hat, läuft die Gruppe zum letzten frei gewählten Wohnort der Familie in der Louisenstraße 98. Mit einem Spachtel füllt Demnig das Loch im Boden mit Sand und Schotter, bevor er die fünf messingbeschlagenen Quadrate in den Boden setzt. Um ihn herum stehen vor allem Schülerinnen und Schüler von der Maria-Ward-Schule und dem Kaiser-Friedrich-Gymnasium. Junge Menschen, denen Juretzek rät, ihre Freiheit nicht für selbstverständlich zu halten. „Es ist euer Leben und eure Freiheit. Kämpft dafür.“
Mit eindringlichen Worten schildert Doris Stennert - sie hat zur Familie Miltenberg recherchiert -, unterstützt von zwei Schülerinnen, die Lebensgeschichte von Vater Isaak, Mutter Adelheid und den drei Kindern Albert Emil, Hermann und Selma. Bis 1926 betrieb die Familie in der Louisenstraße 98 ein Hotel, vermietete das Gebäude später unter. Während der Reichspogromnacht 1938 verwüsteten Nazi-Schlägertrupps ihre Wohnung im ersten Stock, und ein Jahr später mussten Miltenbergs das Gebäude im Zuge der Arisierungen verkaufen. „Den Kaufpreis haben sie nie erhalten“, sagt Stennert. Schwer gezeichnet von der Schikane im Dritten Reich verstarb Isaak Miltenberg am 10. März 1940 in seinem ehemaligen Hotel. Seiner Frau und den Kindern gelang im April 1941 „sozusagen in letzter Minute“ die Immigration in die Vereinigten Staaten.
Max und Margarete Gross schafften es nicht mehr rechtzeitig aus Deutschland heraus. 1942 wurden sie deportiert und in den Vernichtungslagern Theresienstadt und Auschwitz ermordet. Am Hohlebrunnen 2, in der „Villa Renaissance“, hatte das Ehepaar eine Kurpension betrieben. Von Frühjahr 1939 an waren immer mehr Juden dorthin gezogen; die Pension wurde als „Judenhaus“ gebrandmarkt, wie ein eingeritzter Davidstern zeigte, der bei der Sanierung 2019 zutage getreten war.
Angelika Rieber, die mit Dr. Peter Lingens zur Geschichte des Ehepaares Gross geforscht hat, erinnert daran, dass es vor der Renovierung Überlegungen gegeben hatte, im Haus die jüdische Geschichte darzustellen. Nachdem das leider nicht geklappt hatte, sei es „wichtig, dass mit den Stolpersteinen jetzt zumindest an das Ehepaar Gross erinnert wird.“
Zeitzeugin Marianne Creutz mahnt: Das Erinnern darf niemals enden
Von Gerrit Mai
Bad Homburg -Die beiden Mariannes haben im Realgymnasium nebeneinander gesessen und sind heute noch gute Freundinnen. Als Marianne Kirchner nach vier Wochen wieder verschwunden war, machte sich Marianne Creutz damals keine Gedanken. Juden und was mit ihnen passierte, das hatte in ihrem bisherigen Leben keine Rolle gespielt.
Später erfuhr sie, dass Mariannes Mutter im Konzentrationslager ermordet worden war und der arische Vater ebenfalls. 1931 geboren war Marianne Creutz Augen- und Zeitzeugin des Nationalsozialismus. Ihr Vater war gelähmt und blind, und sie hat ihn nur im Bett liegend erlebt. Die Mutter war ans Haus gebunden, der Vater zog seine Informationen aus einem Volksempfänger und verfiel der Hitlerpropaganda. Sie selbst liebte ihre Puppen, tauchte gerne in eine Märchenwelt ab und hatte eine behütete Kindheit, von den Gräueltaten der Nazis ahnte sie damals noch nichts. Sie wäre gerne das blonde Zopfmädchen gewesen, das Hitler auf einer Postkarte einen Blumenstrauß überreichte, und sang im Kindergarten mit den anderen zusammen: „Unser Führer Adolf Hitler lebe hoch.“
Das berichtete Marianne Creutz in der Aula der Maria-Ward-Schule (MWS). Anlass war die Stolpersteinverlegung für Isaak, Adelheid, Hermann und Albert Emil Miltenberg sowie Max und Margarete Groß.
Schülerinnen der MWS hatten sich mit ihrer Lebensgeschichte beschäftigt und trugen sie am Abend einem Publikum aus Lehrern, Schülern und Mitgliedern der Initiative Stolpersteine Bad Homburg vor. Schulleiterin Dr. Leonie Fuhrmann ist wichtig, dass ihre Schülerinnen diesen Teil der deutschen Geschichte bearbeiten. „Als Christen haben wir die Pflicht, uns zu erinnern.“ Das Vergessen widerspreche zentralen Werten von Wahrheit und Wahrhaftigkeit.
Oberbürgermeister Alexander Hetjes (CDU) betonte, dass heutige Generationen keine Schuld trügen, aber in der Verantwortung stünden, Entwicklungen von Hass und Ausgrenzung entschlossen entgegenzutreten. Wolfram Juretzek, der Vorsitzende der Stolperstein-Initiative, fügte hinzu: „Schuld haben wir nicht, aber die Verantwortung, daraus zu lernen.“
Lernen konnten die Anwesenden von Creutz, die - von Schülerinnen befragt - auch davon berichtete, wie sie mit 14 Jahren aus ihrer heilen Welt aufwachte, ihren Kinderglauben verlor und von einem Tag auf den anderen erwachsen wurde:
Ein Plakat mit Leichen auf dem Schulhof
Nach Kriegsende hatten die Amerikaner auf dem Schulhof ein riesiges Plakat mit Leichenbergen aufgehängt, das sich die Schüler anschauen mussten. „Das war einfach furchtbar, ich war erschüttert und zerrissen. Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen.“
Im Nachhinein erinnerte sie sich an Begebenheiten, mit denen sie als Kind nichts anfangen konnte. Etwa, dass ihre Mutter in der Reichspogromnacht hinter dem verschlossenen Fensterladen auf die Straße schaute und weinte. „Unten stand eine Frau mit zwei Kindern, die haben auch geweint.“ Dieses Erlebnis habe ihr Leben geprägt, denn Creutz wurde Krankenschwester, folgte 1979 dem Ruf der Herrnhuter Brüdergemeinde und war am Bau des Förderzentrums für behinderte Kinder und Jugendliche auf dem Sternberg bei Ramallah im Westjordanland beteiligt. Für ihr Lebenswerk erhielt sie kürzlich den Bürgerpreis. Sie berichtete, dass sich ihre Freundin Marianne - in Italien verheiratet - mit der Ermordung ihrer Eltern lange nicht auseinandergesetzt habe. Das änderte sich erst bei einem Besuch in Israel: Da habe Creutz diese dann überredet, den Namen der Mutter in der Gedenkstätte Yad Vashem aufnehmen zu lassen. „Es ist wichtig, dass die Namen erhalten bleiben.“
Noch heute, im Alter von 92 Jahren, feiert sie Weihnachten in Jerusalem. Den Schülerinnen der Maria-Ward-Schule gab sie mit auf den Weg: „Vergesst es nicht, und das hat nichts damit zu tun, ob ihr es erlebt habt oder nicht. Das war eine andere Welt. Gebe Gott, dass die Welt in Zukunft etwas leichter wird.“
Die Gespräche im Anschluss an die Podiumsgespräche zeigten das große Interesse der jungen Leute, und wie wichtig es ist, nicht zu vergessen, und dass Zeitzeugen einen wertvollen Beitrag dazu leisten können.
