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Ein Möbelgeschäft in der Pfarrgasse: Erinnerungen an jüdisches Leben in Wehrheim

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Ein historisches Foto der ehemaligen Pfarrgasse: Die Möbelhandlung Hirsch befindet sich linkerhand, der Schriftzug ist gut zu erkennen. © Repro: Velte

Der 28. April ist der Nationalfeiertag Israels, es wird »Holocaust und Heldentum« gedacht. Eine Spur jüdisches Lebens, die nun erforscht wurde, führt in die Mitte der Gemeinde Wehrheim.

Wehrheim. Im Mai werden Menschen nach Frankfurt kommen, die sich auf Spurensuche nach ihren Vorfahren begeben und der Einladung des »Projekts Jüdisches Leben Frankfurt« gefolgt sind. Auch Wendy und John Schmelzer haben ihren Besuch angekündigt, sind in Erinnerung an Jeanette Hirsch dabei, die im September 1942 im Lager Theresienstadt umgekommene Familienbegründerin. Der Weg wird auch in die Taunusgemeinde Wehrheim führen.

Wehrheimer Geschichtsverein mit großer Forschung zu jüdischem Leben

Angelika Rieber, Initiatorin der Frankfurter Projekt-Arbeit, hat die überlieferten und noch auffindbaren Zeugnisse zum Werdegang der Hirsch-Generationen zusammengetragen, ist den Schicksalen der Kinder und Kindeskinder gefolgt. Während der Großteil der Familie vor NS-Terror und Deportation in Richtung England und Nordamerika entkommen kann, bleibt der 1861 in Auerbach geborenen Jeanette Hirsch die Rettung verwehrt. Als letzte Adressen sind die Fürstenbergerstraße 177 und die Gagernstraße 36 in Frankfurt genannt.

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Das Haus der Familie Hirsch ist weitgehend unverändert geblieben. Damals trug es die Hausnummer 171. Zu dem Anwesen gehörte noch eine Lagerscheune in der »Schlimmauer«-Gasse. © Olaf Velte

In Wehrheim liefert der Geschichtsverein mit seinen Familien- und Häuserforschungen reichlich Auskunft zu Leben und Wirken der jüdischen Einwohner. Jakob Hirsch heiratet 1884 zum zweiten Mal, mit seiner neuen Ehefrau Jeanette geborene Bendheim zieht der Kaufmannssohn die Kinder Cornelie, Eugenie, Friedrich, Bertha und Erna groß. Mittelpunkt des Daseins ist das Anwesen Nummer 171, gelegen in der damaligen Pfarrgasse (heute Am Rathaus) und bereits 1855 von Nathan Hirsch erworben. Mit seinem Vater betreibt Jakob Hirsch im Erdgeschoss des Hauses eine Möbel- und Textilhandlung.

Zwei Gräber der Familie existieren noch auf dem Wehrheimer Judenfriedhof

Wie Susanne Kolass und Michaela Reese - beide im Geschichtsverein aktiv - herausgefunden haben, existieren auf Wehrheims Judenfriedhof noch die beiden Grabsteine der ersten Ehefrau Theres und des jung verstorbenen Sohnes Karl. Nicht mehr erhalten ist jedoch der Gedenkstein für den 1923 verstorbenen Familienvater Jakob Hirsch - dieser ist während der NS-Zeit neben anderen Granittafeln an einen »Steinhauermeister aus Usingen« veräußert worden.

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Jakob Hirsch: Der Familienvater erlebt die NS-Gräuel nicht mehr. © Repro: Velte

Auch nach dem Tod des Möbelkaufmannes laufen die Geschäftstätigkeiten unter der Regie seiner Frau weiter. Ihr zur Seite steht die jüngste Tochter Erna, die eine kaufmännische Lehre absolviert hat und seit Oktober 1920 mit dem Frankfurter Hugo Hochschild verheiratet ist. Die restlichen vier Geschwister sind längst auf eigenen gewerblichen Füßen unterwegs, widmen sich in Hanau, Offenbach und Bremen vorwiegend dem Textilgewerbe.

Repressalien und Rechtlosigkeiten zu Beginn der NS-Zeit

Mit dem Einzug nationalsozialistischer Staatsdiktatur enden die jüdisch-deutschen Ortsgemeinschaften, wachsen die Repressalien und Rechtlosigkeiten. Laut den Reese-Kolass-Recherchen müssen die Hirsch-Erben ihr Haus in der Pfarrgasse 1932 verkaufen. Äußerlich fast unverändert, hat es die folgenden 90 Jahre gegenüber von Kirche und Rathaus überstanden.

Aus dem Dorfbild verschwunden ist dagegen das einst zur »Schlimmauer«-Gasse und mit der Nummer 174 versehene Bruchstein-Bauwerk. Eine markante Scheune, die zum Gewerbebetrieb der Hirsch-Kaufleute gehört und als Lagerhaus dient. Heinrich Velte, Großvater des Autors, hat darin noch die Ballen aus getrocknetem Seegras gesehen - Polster-Material für Sofas und Sessel. 1901 haben die Möbelhändler den Scheuerbau zur Lagerstätte umgestaltet.

Nach dem Verlust ihres Lebensmittelpunktes zieht Jeanette Hirsch zu ihrem in Hanau lebenden Sohn Friedrich, der dort Mitbetreiber des namhaften Bekleidungsgeschäfts »Berger & Schmelzer« in der Nürnberger Straße ist.

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Jeanette Hirsch stirbt im Lager Theresienstadt. © Repro: Velte

Vergeblicher Kampf um Auswanderung: Tod im Konzentrationslager Theresienstadt

Die Mutter wird zur Zeugin der ab 1938 einsetzenden Verwüstungen: Zerstört werden neben dem Laden für Herren- und Knabenbekleidung auch die Privatwohnungen der drei Inhaber. Kurzzeitig in Buchenwald inhaftiert und dort Misshandlungen ausgesetzt, gelingt dem Schwager-Trio Friedrich Hirsch, Leopold Schmelzer und Hugo Berger mitsamt Familien schließlich die Flucht ins Ausland.

Drei Jahre lang kämpft Jea-nette Hirsch - mittlerweile in Frankfurt wohnend - um ihre Auswanderungserlaubnis. Am 18. August 1942 wird die vormalige Wehrheimer Handelsfrau nach Theresienstadt verschleppt. »Ihr verbliebenes, bescheidenes Vermögen«, so schreibt Angelika Rieber, »wird am 23. September 1942 zugunsten des Reiches eingezogen.« Zu diesem Zeitpunkt ist die 81-jährige Frau bereits tot.

Besuchsprogramm und Spurensuche

Der heutige Tag – 28. April – ist dem »Gedenken an Holocaust und Heldentum« gewidmet. Als israelischer Nationalfeiertag besteht Yom HaShoah seit 1951.

Das vor 42 Jahren ins Leben gerufene Besuchsprogramm des Projekts »Jüdisches Leben Frankfurt am Main« findet auch in diesem Jahr statt.

Zwischen dem 8. und 15. Juni kommen 45 Gäste in die hessische Stadt – darunter 25 direkte Nachkommen ehemaliger Einwohner jüdischer Herkunft. Obligatorisch sind die Schulbesuche mit Begegnungen und Austausch.

Organisiert und vermittelt wird das Programm unter Federführung der Projekt-Gründerin und Vorsitzenden Angelika Rieber, die zudem der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Hochtaunus (GCJZ) vorsteht.

Mittlerweile folgen zumeist Nachfahren der zweiten und dritten Generation den noch auffindbaren Spuren jüdisch-deutscher Lebenswirklichkeiten. Zu den diesjährigen Besuchern gehören Wendy und John Schmelzer, deren Vorfahren auch in Wehrheim gelebt und gewirkt haben.

Jakob Hirsch wurde 1853 in der Taunus-Gemeinde geboren und sieben Jahrzehnte später dort zu Grabe getragen, seine zweite Frau Jeanette stammte von der Bergstraße und musste den Ort während der NS-Diktatur verlassen. Sie starb am 8. September 1942 in Theresienstadt.

1994 war die Nachfahrin Marianne Schmelzer im Rahmen des Besuchsprogrammes in Frankfurt.

Angelika Rieber ist den Spuren der fünf Hirsch-Kinder gefolgt – ihr Aufsatz zum Thema soll auf der Projekt-Webseite zugänglich gemacht werden: www.juedisches-leben-frankfurt.de.

In Wehrheim forschen Michaela Reese und Susanne Kolass – Vorstandsmitglieder des örtlichen Geschichtsvereins – zur lokalen Historie der jüdischen Mitbewohner.

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