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Und plötzlich waren sie weg

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Es war eine Begegnung, die zu Herzen ging. Die Amerikanerin Laura Wetzler kam nach Königstein, um mehr über ihren Großonkel, des letzten Rabbiner von Königstein, zu erfahren. In der Kurstadt standen ihr viele Türen offen.

Manchmal erwacht Geschichte zum Leben. So wie an einem sonnigen Sommertag in Königstein, als die US-amerikanische Sängerin und Liedermacherin Laura Wetzler einen Stadtrundgang erlebt, der sie zu Tränen rührt. Der Besuch hat einen sehr persönlichen Hintergrund: Bei dem prominenten Gast handelt es sich um die Großnichte des letzten Königsteiner Rabbiners, die seit vier Jahren Ahnenforschung betreibt.

„Es ist so wichtig, sich in diesen Zeiten um ein friedliches Miteinan-der zu bemühen“, sagt Laura Wetzler. Die Musikerin und politische Aktivistin weiß, wovon sie spricht. Denn sie gehört zu den Menschen, deren Familie Anfeindung, Verfolgung, Flucht und Mord erleben musste. Die Wetzlers sind jüdischen Glaubens, lebten und arbeiteten einst in Deutschland. Dann kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Vielen aus der Großfamilie (Großvater Max hatte elf Geschwister) gelang die Flucht, andere blieben. Von einigen verlieren sich die Spuren, von zweien der Geschwister weiß man sicher, dass sie den Holocaust nicht überlebten. Zu ihnen gehören der ehemalige Königsteiner Rabbiner Siegfried Wetzler (1880–1942) und seine Ehefrau Rebekka (1896–1942).

Ahnenforschung im Netz

Laura Wetzler lässt die Geschichte ihrer Familie keine Ruhe. Seit vier Jahren zieht es sie immer wieder nach Deutschland. Sie möchte verstehen und begreifen, wie es damals war, wie ihre Vorfahren lebten, was passiert ist. Eine ihrer wichtigsten Quellen ist die Internetseite Alemannia-Judaica.de der Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen Raum. „Die Menschen der Arbeitsgemeinschaft haben so unglaublich viel wertvolle Arbeit geleistet, ich bin ihnen so dankbar“, sagt sie. Hier ist sie auch auf die Geschichte ihres Großonkels Siegfried gestoßen, auf dessen Spuren sie beim diesjährigen Deutschlandbesuch wandelt.

In Königstein wird Laura Wetzler von Stadtarchivarin Beate Groß-mann-Hofmann, ALK-Chef Robert Rohr sowie Petra Geis und Hedwig Groß von der Initiative Stolpersteine begleitet. Der Rundgang beginnt am Synagogendenkmal im Kurpark. Groß und prächtig sei die Synagoge gewesen, stellt die 1960 in New York geborene Sängerin fest und möchte wissen, ob das Gebetshaus und die jüdischen Wohn- und Geschäftshäuser innerhalb des Ortskerns gelegen haben oder „vor den Toren“. Es ist ihr wichtig zu hören, dass die jüdischen Bürger damals ganz selbst-verständlicher Teil des Taunusstädtchens waren.

Als nächstes geht es in die Kirch-straße. Im Haus Nummer 12 wohnte einst die Familie Gemmer – drei Stolpersteine erinnern an ihr Schicksal. Während die Stadtarchivarin berichtet, ereignet sich ein ganz besonderer Moment: Elisa-beth Kurz, die heutige Bewohnerin des Hauses, gesellt sich kurzentschlossen dazu. Und die 85-Jährige entpuppt sich als Zeitzeugin. Sie kannte Siegfried Wetzler und kann sich noch gut erinnern.

„Erzählen Sie!“

Ein großer Mann sei er gewesen, dunkelhaarig und manchmal mit einem Dreitagebart. Laura Wetzler ist zu Tränen gerührt: „Wir haben kein einziges Foto von meinem Großonkel, können uns gar kein Bild von ihm machen. Sie kannten ihn! Erzählen Sie!“ Obwohl Elisabeth Kurz damals erst sechs Jahre alt war, weiß sie noch genau, dass der Rabbiner gerne im Garten arbeitete. Die Familie sei überaus höflich und zuvorkommend gewesen. „Und plötzlich waren sie weg.“ Siegfried und Rebekka hatten Königstein 1938 in aller Stille verlassen und sich nach Paris begeben, wo ihr Sohn Josef studierte.

Mit ganz wenig Handgepäck waren sie gegangen, Kleidung, Möbel und alles andere hatten sie in ihrem Haus im Ölmühlweg 19 zurückgelassen. Am 10. November 1938, dem Tag nach der Reichspogromnacht, wurde das Haus von den Nationalsozialisten verwüstet. „Mein Großonkel wollte seine Gemeinde nicht im Stich lassen“, ist sich Laura Wetzler sicher. „Er blieb, so lange es ging.“ Am Ende der zufälligen Begegnung in der Kirchstraße schließt sie Elisabeth Kurz in die Arme. Die beiden Frauen sind in diesem Moment auch emotional ganz eng miteinander verbunden.

Die nächste Station des Rundgangs ist das Wohnhaus der Familie Wetzler. Hier lebte und arbeitete der Rabbiner nicht nur, es galt auch als „Haus der jüdischen Kulturgemeinde“ und war für jeweils vier bis fünf Jungen aus Frankfurt ein Ort der Erholung. Für Laura Wetzler und ihre Begleiterin Madelaine Zadik, deren Eltern ebenfalls aus Deutschland in die USA flohen, öffnen die Mieter zweiter Wohnungen bereitwillig ihre Türen. Später zeigen sie auch noch den Keller, wo sich einst die Mikwe (das rituelle Tauchbad) befand. Bedächtig schreiten die beiden Besucherinnen die alte Treppe empor, bewegen sich behutsam auf knarrenden Holzdielen, streichen mit den Händen über altes Mauerwerk und blicken nachdenklich aus den Fenstern zum Woogtal hinaus. Die Musikerin versucht, die Geschichte ihrer Familie mit allen Sinnen aufzunehmen. Im kleinen Garten wer-den später noch Fotos geschossen. „Die Dame vorhin hat gesagt, er hat gerne im Garten gearbeitet“, sagt sie sichtlich gerührt. Die De-legation überlegt noch kurz, ob die Rosen, die sie vor dem Betreten des Hauses im Gedenken an Siegfried und Rebekka Wetzler neben die Stolpersteine auf dem Bürgersteig gelegt haben, noch Wasser brauchen – aber das ist zu spät, gedankenlose Mitmenschen haben die Blumen einfach mitgenommen.

Siegfried Wetzler und Rebekka Wetzler, geborene Danziger, überlebten den Holocaust nicht. Zwar glückte die Flucht nach Paris, doch nach der Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht wurde das Ehepaar verhaftet und in Camp Drancy in der Nähe der Hauptstadt gebracht. Am 11. Juni 1942 wurde Siegfried Wetzler nach Auschwitz-Birkenau deportiert, Rebekka Wetzler am 6. November 1942.

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