Eine vergessene Katastrophe

Dr. Andrea Braum hat als Ärztin ohne Grenzen gearbeitet. Sie hat in Bangladesch geflüchtete Rohingyas behandelt.
Neu-Anspach -Es ist der Krieg in der Ukraine, der die Menschen hierzulande seit bald einem Jahr beschäftigt und auch die Berichterstattung in den Medien dominiert. Die Situation der Bevölkerung in dem osteuropäischen Staat und die der Flüchtlinge ist furchtbar, doch sie lenkt auch den Blick weg von anderen Ländern, in denen sich auch schon seit vielen Jahren ein großes Elend abspielt.
Eines davon ist die Verfolgung der Rohingyas im Rakhine-Staat im westlichen Myanmar. Dr. Andrea Braum hat es ganz nah miterlebt, denn die Neu-Anspacherin war insgesamt 16 Monate - unterbrochen nur durch einen dreimonatigen Aufenthalt in Deutschland und mehreren Quarantänen wegen Corona - für die internationale Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen im Nachbarland Bangladesch tätig. Dieses ist seit 2017, als es zu einem heftigen Übergriff des burmesischen Militärs kam, Heimat für die Ethnie.
Hier leben derzeit annähernd eine Million Menschen - 54 Prozent davon Kinder - im weltgrößten Flüchtlingslager, das in 34 Unterlager unterteilt ist. Braum, die seit 1989 als Psychiaterin für Vitos Hochtaunus in der Klinik in Köppern arbeitet, war in zwei kleineren Camps in Cox’s Bazar beschäftigt. Wobei „klein“ relativ ist, denn auch hier leben insgesamt 91 000 Menschen in mit Planen vor Feuchtigkeit geschützten Bambushütten ohne Fenster. Menschen, die in Myanmar als illegal eingereiste Bengalis gesehen werden und immer wieder Ziel von Verfolgung, Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen wurden.
Die Rohingyas gelten laut UN als die am meisten verfolgte Minderheit weltweit. Sie haben keinen Pass, gelten deshalb offiziell nicht als Geflüchtete. „Sie haben keine Schulbildung, keinen Zugang zum Gesundheitswesen, und sie sind nicht geimpft“, berichtet Braum. „Und sie wollen zurück in ihre Heimat, in Sicherheit und mit Würde.“
Gesichert mit Stacheldrahtzaun
Die 60-Jährige hat außerhalb der mit Stacheldrahtzaun und mehreren Checkpoints gesicherten Lager im nur zwölf Kilometer entfernten Ukhiya gewohnt. Ein Camp-Pass und die Akkreditierung durch Ärzte ohne Grenzen ermöglichten ihr den Zugang zu den beiden Siedlungen und zu ihrer Arbeit in den Gesundheitsstationen. In diesen wird denen neben der normalen medizinischen Behandlung auch eine 24-Stunden-Notfallambulanz, Geburtshilfe, Hilfe bei chronischen Erkrankungen und Mental Health (MH, mentale Gesundheit), also die Unterstützung bei psychischen Problemen, angeboten.
Braum, die für Ärzte ohne Grenzen schon ein Jahr in Äthiopien und eineinhalb Jahre in Simbabwe tätig war, hat hier zunächst „nur“ als Psychiaterin gearbeitet und ihr Wissen an zwei junge Ärzte weitergegeben, die in MH angelernt wurden. Nach zwei Monaten war sie zudem für zwei Psychologen, sieben Berater und 27 Freiwillige aus den Reihen der Rohingyas verantwortlich. Deren Aufgabe ist es, in den Lagern von Tür zu Tür zu gehen und Aufklärung im Sinne der seelischen Gesundheit zu betreiben. Sie informieren ihre Landsleute, welche Probleme durch die Flucht auftreten und dass hier Gespräche helfen können.
„Schwere Fällen schicken sie dann zu uns“, erzählt die Anspacherin, die dann gemeinsam mit anderen Ärzten und Übersetzern die Behandlung übernommen hat. Obwohl man es erwarten könnte, hat sie sich nicht mit posttraumatischen Belastungsstörungen beschäftigen müssen, sondern mit chronischen Schmerzen, die sich auf Grund der Flucht und wegen des Lebens im Lager Bahn brechen. Depressionen und Magen-Darm-Erkrankungen zählt Braum auf. Und Schizophrenie. „Das war mein Hauptklientel, denn wegen der Gewalt- und Fluchterfahrungen ist das Risiko größer, daran zu erkranken.“
Auch sie hat in einer einfachen Baracke gearbeitet. „Es war nicht sehr verschwiegen in dem Konsultationsraum, aber wir mussten uns arrangieren.“ Die Rohingyas, so berichtet Braum, wollten am liebsten Tabletten oder Spritzen, von Entspannungs- oder Atemübungen hielten sie weniger. Außerdem befragen sie, und auch das erschwert mitunter die Behandlung, normalerweise Heiler oder religiöse Berater. Oder die sogenannten Bogus Doctors, die ihre Patienten falsch behandeln und ihnen nicht die richten Medikamente geben. Die kulturellen Unterschiede, der Glaube an die „schwarze Magie“, seien herausfordernd, erzählt Braum. Aber obwohl eine langfristig angelegte Psychotherapie unter solchen Umständen nicht möglich ist, wird die Arbeit der Ärzte ohne Grenzen geschätzt, ist sie überzeugt.
Mit Hingabe im Einsatz
Für sie war vor allem beglückend, mit welcher Hingabe die Freiwilligen im Lager unterwegs waren, um Aufklärung zu betreiben. „Sie setzen sich sehr ein, und sie haben einen großen Wissensdurst.“ Und deren Arbeit gerade in der Regenzeit, wenn die Wege in dem hügeligen Gelände matschig sind, ausgesprochen anstrengend ist. Für die Psychiaterin war aber auch das Klima eine Herausforderung. 99 Prozent Luftfeuchtigkeit beispielsweise haben ihr Portemonnaie schimmeln lassen und zu muffelnder Bettwäsche geführt. Braum war aber in einem fest gemauerten Gebäude untergebracht, und sie hatte ein eigenes Zimmer. Wenn ein freies Wochenende anstand, dann hat sie die Tage auch mal am Meer in einer Hotelanlage verbracht. Zwei Weihnachtsfeste hat sie in Bangladesch gefeiert und bei 25 Grad Fröbelsterne gebastelt.
Einen längeren Urlaub hat sie ebenfalls gemacht. In Sylhet, im Nordosten des Landes, gibt es Teeplantagen und Mangrovenwälder. „Hier habe ich eine katholische Kirche gefunden und einen Gottesdienst besucht“, berichtet die Katholikin, für die die Zeit in dem südasiatischen Land „sehr erfüllend“ war. Mitgenommen hat sie für sich auch die Erkenntnis, dass unsere Probleme vergleichsweise nichtig sind und man für das, was man hat, dankbar sein sollte. „Und man sollte weg von der Konsumwelle kommen und im Leben gelassener sein.“
Braum hatte sich übrigens bei Ärzte ohne Grenzen direkt für Bangladesch beworben. Für sie ist das Leid der Rohingyas eine „vergessene Katastrophe“. Die Arbeit in dem internationalen Team sei spannend gewesen, berichtet sie. Zudem sei es erfüllend, Wissen weiterzugeben und Verständnis für psychisch kranke Menschen zu wecken oder zu vertiefen.
Trotz aller Begeisterung für diese Arbeit plant Braum in den nächsten Jahren keinen weiteren Einsatz für Ärzte ohne Grenzen, wird aber für die Organisation demnächst als Mentorin arbeiten und Gespräche mit Rückkehrern führen und Neulinge vorbereiten. Sie ist jetzt Oberärztin bei Vitos, was eine Freistellung erschweren würde. Außerdem hat sie inzwischen einen kleinen Enkel bekommen. Loumis wurde im Mai 2021 geboren, kurz vor ihrem zweiten Aufenthalt in Bangladesch, und schon damals war der Abschied schwer. Glücklicherweise war die Internetverbindung ganz gut, so dass Braum den Kontakt über Videotelefonie halten konnte. „Jetzt aber will ich nicht mehr weg. Vielleicht im Ruhestand wieder.“ Von Anja Petter
Vortrag
Dr. Andrea Braum berichtet am heutigen Dienstag im Katholischen Gemeindezentrum St. Marien, Hans-Böckler-Straße 1-3, Anspach, über ihre Arbeit in Bangladesch. Beginn ist um 19.30 Uhr.
