Oberursel: Unerwartete Lichtblicke im Elend

Der Oberurseler Verein Nandri Kinderhilfe schaut sich nach fast drei Jahren pandemie-bedingter Unterbrechung wieder seine Projekte vor Ort in Indien an und ist positiv überrascht.
Oberursel -Noch gut kann sich Dr. Steffen Roehn daran erinnern, wie er und die anderen im März 2020 mit dem letzten Flieger, der abhob, aus Indien zurück gen Heimat reisten. „Dann schlug Corona zu“, sagt Roehn, stellvertretender Vorsitzender des gemeinnützigen Oberurseler Vereins Nandri Kinderhilfe. Vor wenigen Wochen konnten Roehn, der die Vereinsprojekte vor Ort betreut, seine Frau und treue Sponsoren aus dem Schwarzwald zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie wieder nach Indien reisen: Im Südosten des Landes, dem Bundesstaat Tamil Nadu, verbrachte die Gruppe 21 Tage und überzeugte sich davon, dass die Arbeit der Nandri-Sozialarbeiterinnen und -Lehrerinnen (fast) weitergeht wie vor Corona.
Aktuell unterstützt der rund 60 Mitglieder starke Verein insgesamt 500 Kinder und deren Familien bei Ernährung, Bildung und Ausbildung der Jungen und Mädchen, die ihnen die Chance auf ein besseres, selbstbestimmtes Leben eröffnen. „Wir müssen Bildung in dieses Land bringen, das ist am nachhaltigsten“, sagt Monika Gerbas, Gründerin und Vorsitzende des Vereins. Wegen einer Hüftoperation konnte die 86-Jährige die jüngste Reise nicht wie geplant mit antreten. „Aber ich schnappe mir einfach meinen Enkel und wir fliegen dieses Jahr.“
Was dann genau 25 Jahre nach ihrer ersten Reise nach Indien wäre, die Gerbas 1998 unternahm, um ihr damaliges Patenkind zu besuchen. Nachdem sie die Armut mit eigenen Augen gesehen hatte, in der die Kinder damals in einem Waisenhaus lebten, versprach sie zu helfen. „Acht Jahre lang war ich Einzelkämpferin.“
Im August 2005 gründete sie in ihrem Oberurseler Wohnzimmer gemeinsam mit zehn Mitstreitern den Verein, um den notleidenden Jungen und Mädchen dauerhaft zur Seite zu stehen.
Heute ist die Little Flower High School in der Nähe von Chennai eines der wichtigsten Projekte von Nandri. „2007 habe ich die Schule gefunden. Mit 100 hungernden Kindern, die auf dem Boden der Klassenzimmer schliefen und aus Pfützen tranken. Die Schule sollte geschlossen werden“, erinnert sich Gerbas. „Wir haben dann eingegriffen.“ Nandri ließ einen Trinkwasserbrunnen bohren, Toiletten für die Kinder bauen, die zuvor in den Busch gingen, wo Giftschlangen lauerten, später wurde noch ein Wohnheim errichtet.
Seit 2007 unterstützt und finanziert der Verein die Schule kontinuierlich. „Als wir jetzt nach der langen Pause in Indien waren, wussten wir selbst nicht so genau, was uns erwarten würde. Wie haben unsere Lehrer, die Helfer, die Kinder und Familien diese Zeit überstanden?“, sagt Roehn, der sich engagiert, seit er 2017 von Nandri in der Zeitung las.
Überall Fortschritte sichtbar
Die Sorgen stellten sich als unbegründet heraus, freut sich der 58-Jährige: „Unsere Projekte laufen gut, überall war der Fortschritt mit Händen zu greifen. Das Spendengeld kommt an.“ Die Little Flower High School, die mittlerweile über zehn Klassenstufen verfügt, besuchen 200 Kinder und damit fast so viele wie vor Corona. „Wir hatten mit einem größeren Schwund gerechnet“, so Roehn. „Und jetzt kann unser Schuldirektor auch wieder in die Ziegeleien gehen und dort um die jüngeren Kinder werben.“
In der Little Flower High School lernen die Ärmsten der Armen: nämlich hauptsächlich Kinder von Wanderarbeitern, die oft schon mit fünf, sechs Jahren wie ihre Eltern in den Ziegelfabriken in der Region schuften. „Das Konzept der Schule ist, sie aus der Kinderarbeit zu holen. Die Eltern haben selbst als Kinder nichts gelernt. Es hat Jahre gedauert, ihnen den Wert von Bildung zu vermitteln, wir erklären ihnen, wie wichtig es ist, ihre Kinder auf die Schule zu geben.“
Manchen zahlt der Verein dann ausnahmsweise sogar ein wenig Geld - schließlich fehle eine Arbeitskraft. „Wir haben uns so gefreut, die Kinder, Direktor Arputham und die Lehrerinnen nach fast drei Jahren wiederzusehen. Die Schülerinnen und Schüler standen mit Rosen in der Hand Spalier, das hat uns sehr gerührt“, erzählt Roehn. Die Gruppe inspizierte die Gebäude, schaute sich den Unterricht an, verteilte Kleidung, die neuen Schulbücher und sprach mit geförderten Studenten.
Das andere Großprojekt von Nandri findet sich in den Dörfern der Ureinwohner im Hinterland: Dort lebt die Volksgruppe der Irular in einfachsten Verhältnissen. Über mittlerweile sechs Dorfzentren, die Nandri errichtet hat und unterhält, erreicht der Verein rund 250 Kinder, die in den Gemeinschaftshäusern essen, lernen und eine Grundbildung bekommen, auch zu Tabuthemen wie Sexualkunde. „Früher durften die Lehrer über diese Dinge nicht sprechen“, sagt Gerbas. „Ich habe dann mal einen gefragt, wann wir denn anfangen sollen, den Mädchen etwas über ihren Körper zu erklären. Wenn sie 18 sind, ist es zu spät, da haben sie schon drei Kinder.“
In einem der Dörfer erlebten die Deutschen einen besonders bewegenden Moment. Roehn: „Wir haben mit zwei 14-Jährigen gesprochen. Einer besucht die Schule, spricht perfektes Englisch und will Astronaut werden. Er führte uns durch sein Dorf. Sein Freund lief auch mit. Er war immer nur im Wald und ist noch nie zur Schule gegangen. Er habe keine Zukunft, meinte der andere. Die Kinder begreifen das.“
Auch das neue Frauenschutzhaus einer Sozialarbeiterin in Madurai, das Nandri seit Kurzem unterstützt, schauten Roehn und die anderen sich an. „Diese Frauen sind Ausgestoßene, Sie können sich das nicht vorstellen! Die Familien werfen sie wie Müll auf die Straße. Viele wurden missbraucht, sind traumatisiert, psychisch und körperlich schwerkrank“, berichtet Roehn.
Das Haus, in dem die aktuell 57 Frauen und ihre Babys einen geregelten Tagesablauf haben und medizinisch versorgt werden, habe ihnen das Leben gerettet. Nandri will es weiterhin unterstützen - dazu stehen Instandhaltungsmaßnahmen an der Schule und in den Dorfzentren an. Und ein Traum, den Monika Gerbas hegt: „Wir wollen eine English Medium School etablieren, damit die Kinder noch bessere Chancen haben. Derzeit können die Eltern sich das nicht leisten.“
Dafür müsse der Verein freilich wachsen, es brauche neue Ankersponsoren, Zehntausende Euro mehr Geld. „Das Budget der Schule müssten wir verdoppeln ... Aber wir haben schon so viel geschafft.“
Neue Mitstreiter gesucht - Praktika möglich
Der gemeinnützige Oberurseler Verein Nandri Kinderhilfe sucht dringend einen neuen stellvertretenden Vorsitzenden. Vize Dr. Steffen Roehn werde sich dann als Vorsitzender zur Verfügung stellen - „und ich kann endlich in Rente gehen“, sagt Gründerin und Vorsitzende Monika Gerbas.
Darüber hinaus sucht Nandri ein oder zwei weitere Ehrenamtliche, die die Öffentlichkeitsarbeit für den Verein übernehmen möchten. Ebenfalls sind junge Leute willkommen, die ein Praktikum an der Little Flower High School in Tamil Nadu absolvieren wollen. Auch weitere Paten, Geld- und Sachspenden werden benötigt, und zwar hauptsächlich Kinderkleidung (keine Babyklamotten). Die Kontoverbindung und viele weitere Informationen finden sich auf https://nandrikinderhilfe.de. Kontakt per E-Mail an info@nandrikinderhilfe.de oder Telefon: (0 61 71) 2 43 54.
