„Wir werden uns eines Tages umarmen“

Als andere schon nicht mehr an die Deutsche Einheit glaubten, war Christoph Müllerleile immer noch überzeugt, dass sie kommen würde. Deshalb organisierte er vor 40 Jahren eine bemerkenswerte Kundgebung.
Werfen Sie mal einen Blick in den Kalender oder auf die Datumsanzeige Ihres Smartphones. Heute ist Mittwoch, ja. Und es ist der 17. Juni. 17. Juni? Da war doch was! Länger als 30 Jahre war der 17. Juni Feiertag in der Bundesrepublik Deutschland – zurückgehend auf den Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953.
Dr. Christoph Müllerleile, heute Stadtverordnetenvorsteher und Kommunalpolitiker der Oberurseler Bürgergemeinschaft (OBG), denkt besonders an jenen 17. Juni des Jahres 1975 zurück. Denn heute vor 40 Jahren stand Müllerleile, damals 28 Jahre alt und Vorsitzender der Jungen Union (JU) in Oberursel, an der Zonengrenze und demonstrierte.
Müllerleile, seinerzeit frisch in den Landesvorstand der JU Hessen gewählt, hatte sich mit dem damaligen Bezirksverband des CDU-Nachwuchses in Osthessen und dessen Vorsitzendem Dr. Norbert Herr angefreundet. „Du, Norbert, können wir nicht eine Kundgebung machen?“ habe er den Parteikollegen damals gefragt, erinnert sich der Oberurseler. Denn er hatte seinerzeit den Eindruck, der 17. Juni sei „im Schwinden begriffen“, heißt: Das Gedenken wurde immer weniger hochgehalten, die deutsche Teilung gehörte zum Alltag.
Müllerleiles Ziel: eine Aktion direkt an der Grenze, genauer gesagt am Point Alpha im Landkreis Fulda in Osthessen. Point Alpha war während des Kalten Krieges einer der wichtigsten Beobachtungsstützpunkte der US-Streitkräfte in Europa. Dort standen sich Nato und Warschauer Pakt direkt gegenüber.
Müllerleile und seine Mitstreiter konnten ihr Vorhaben umsetzen. Den damaligen Landrat des Kreises Fulda, Fritz Kramer, wussten die jungen Christdemokraten genauso hinter sich wie Berthold Jost, der seinerzeit Bürgermeister der Gemeinde Rasdorf war, zu der Point Alpha gehört. Der Bundesgrenzschutz wusste Bescheid, ebenso die Amerikaner.
Also, wie war es heute vor 40 Jahren? Nach einer Kundgebung im Ort ging’s direkt an die Grenze zum Point Alpha. Etwa 50 bis 100 Teilnehmer, die meisten aus JU-Kreisen – an eine genaue Zahl kann sich Müllerleile nicht mehr erinnern. Wohl aber an andere Dinge. „Wir haben einen Kranz für die Opfer von Terror und Gewaltherrschaft niedergelegt.“
Und dann dieser eine Moment: „Und auch ihr Soldaten der Nationalen Volksarmee werdet eines Tages frei sein, wir werden uns umarmen“, rief Christoph Müllerleile über die Grenzanlage hinweg. „Ich weiß nicht, was die empfunden haben“, sagt der Oberurseler heute in Bezug auf das unbekannte Gegenüber.
Wer damals Dienst auf der anderen Seite des Zauns tat, weiß er (noch) nicht – über Internet und soziale Netzwerke ließe es sich vielleicht herausfinden. Eine Möglichkeit, die der heute 68-Jährige in Erwägung zieht.
Seine hinausgerufene Prophezeiung vom 17. Juni 1975 sollte bekanntlich erst gut 14 Jahre später wahr werden. An jenem Abend im November 1989 saß Müllerleile wie viele andere zu Hause vor dem Fernseher, dachte unter anderem an 1975 und hatte angesichts dessen, was er da sah, Tränen in den Augen. Ganz ehrlich – hat er im Moment des Ausrufs geglaubt, was er sagt? Die Antwort kommt prompt und überzeugt. „Ja. Ich habe immer geglaubt, dass man ein Land nicht so abschotten kann“, sagt Müllerleile und spricht von gleicher Kultur und Sprache. Auch in Zeiten, in denen andere nicht mehr an die Wiedervereinigung glaubten, tat er es. „Ich habe nie an die Zukunft des Kommunismus geglaubt. Ich war fest überzeugt, dass das System implodiert.“
Im Juni 1975 empfand Müllerleile am Point Alpha Beklemmung und Angst. Was für ein anderes Gefühl war das im Jahr 2012, als er mit der OBG dort die weitläufige Gedenkstätte besuchte. „Ich konnte nicht glauben, dass man überall hingehen darf.“