„Wir stehen vor einer beispiellosen Krise“ – Ausnahmezustand in den Apotheken

Hessische Apotheker schlagen Alarm. Es gibt bundesweit Lieferengpässe bei mehr als 500 Medikamenten. Die Sorge vor dem Winter wächst.
Hochtaunus – Es ist eine Horrorvorstellung für jeden kranken Menschen. Mit einem Rezept in der Hand steht man in der Apotheke und dann das: Die dringend benötigte Medikation ist nicht auf Lager. Was dramatisch klingt, entwickelt sich in deutschen Apotheken mehr und mehr zum Normalzustand. Seit rund einem Jahr leidet die Branche unter massiven Lieferengpässen - viele Medikamente sind für die Apotheker kaum oder gar nicht zu bekommen.
„Die Lage hat sich zugespitzt“, sagt etwa die Inhaberin der Park Apotheke in Kronberg, Andrea Zahnert. „Die Situation ist sehr schwierig. Wir müssen die Patienten teils wegschicken, weil nichts da ist, und müssen schauen, ob das entsprechende Medikament woanders in der Region vorhanden ist.“ Für die Pharmazeutin ist das keine einfache Situation. „Wir haben den Anspruch, die Patienten bestmöglich zu versorgen. Eltern mit kleinen Kindern wegzuschicken - das will man als Apotheker nicht.“ Sie wollten helfen, könnten das momentan aber nicht immer. Zahnert sagt: „Natürlich sorge ich mich.“
„Ausnahmezustand“ in den Apotheken – Es gibt mehr als 500 Lieferengpässe
Die Sorge ist berechtigt. Mehr als 500 „alarmierende Lieferengpässe“ für lebenswichtige Arzneimittel meldeten Apotheken bundesweit, heißt es vom Hessischen Apothekerverband. Die Apotheken befänden sich „im Ausnahmezustand“; die Engpässe bedrohten die Sicherheit in der Arzneimittelversorgung. „Wir stehen vor einer beispiellosen Krise“, warnt der Verbandsvorsitzende Holger Seyfarth. Zwar seien die Apotheker Tag und Nacht im Einsatz und um Lösungen bemüht. „Aber die Situation verschlechtert sich rapide, wir können die Sicherheit unserer Patienten nicht mehr gewährleisten.“
Und die Wintersaison mit der nächsten Erkältungswelle stehe erst noch bevor. „Wenn sich in nächster Zeit nichts ändert, wird der Winter schwierig. Das wird dann ein Problem“, prognostiziert Esmail Tolideh, Inhaber der Bad Homburger Hof Apotheke. Bei Fiebersäften - bis vor wenigen Monaten noch kaum lieferbar - sei die Situation nicht mehr so kritisch, dafür fehlten immer noch die Antibiotikasäfte. „Die Politik hat eine Warnung herausgegeben und rät dazu, zu bevorraten, aber es ist ja nichts da. Wie soll ich das machen?“, fragt der Pharmazeut.
Penicillin ist schwer zu bekommen – Das sagen hessische Apotheker
Penicilline wie etwa Amoxicillin, Cephalosporine oder Augentropfen und -salben - all das sei derzeit flächendeckend kaum zu bekommen, sagt Marion Kastl, Filialleiterin der Regenbogen Apotheke in Oberursel. „Es sind komplette Wirkstoffe, die nicht lieferbar sind. Das ist sehr frustrierend.“ Und vor allem für Patienten schlecht, die etwa mit hohem Fieber oder Scharlach in der Apotheke stehen. „Diese brauchen ihre Medikamente jetzt und müssen dann erst einmal zum Arzt zurück, um sich ein anderes Antibiotikum aufschreiben zu lassen.“ Problematisch werde das immer, wenn Patienten aufgrund von Allergien auf bestimmte Präparate angewiesen seien, erklärt die Inhaberin der Adler Apotheke in Usingen, Simone Hahn.
„Wenn jemand nur ein Präparat verträgt und das dann gerade nicht da ist, ist das fatal“, sagt sie. „Sowohl der Arzt als auch der Patient müssen derzeit flexibel sein. Der Arzt muss schauen, wie er die Behandlung umstellt. Wir können nur versuchen, das zu vermitteln, was lieferbar ist.“ Oft telefonierten sie und ihre Kollegen dann im Kreis herum. „Oft ist es so, dass die Medikamente nicht flächendeckend fehlen, sondern sich das punktuell und regional unterscheidet.“ „Antibiotikasäfte und auch -tabletten sind im Wechsel immer wieder mal nicht lieferbar“, erzählt ihre Kronberger Kollegin Zahnert. „Meist ist es eine Produktgruppe, die gerade fehlt. Penicillin etwa war lange gar nicht zu bekommen, und wenn, dann nur in Kleinstmengen.“ Generell dürften die Apotheker vor allem bei den Herstellern nicht wählerisch sein. Auch ihr schwant Übles für die nähere Zukunft. „Ich habe wenig Hoffnung, das sich die Situation bald ändert.“
Problem durch Lieferengpässe: Produktion wurde ins Ausland verlagert
Denn tatsächlich handelt es sich bei der derzeitigen Krise wohl nicht um eine Ausnahme, sondern eher um die Folge struktureller Probleme im Gesundheitssektor. „Der Kostendruck im Gesundheitssystem hat dazu geführt, dass der Wert von Arzneimitteln immer weiter nach unten gegangen ist und die Produktion auf andere Kontinente ausgelagert wurde“, erklärt Alexander Schopbach, Referent für Kommunikation beim Hessischen Apothekerverband. Für viele Medikamente gebe es nur noch ein, zwei Produktionsstätten, etwa in China, und damit eine geringere Menge, die in den Markt fließe. „Und wenn die Kassen in anderen europäischen Ländern mehr zahlen, dann liefert der Hersteller eben nach Österreich oder in die Niederlande.“
Mittelfristig müsse es darum gehen, die Wertigkeit der Medikamente wieder zu steigern, damit aus dem Gesundheitssystem heraus angemessene Preise gezahlt werden. „Die Politik muss Anreize schaffen, um die Produktion zurück nach Europa zu holen.“ Dass die Apotheken selbst bestimmte Arzneimittel herstellen, sei nur theoretisch eine Option. Es sei utopisch, zu glauben, dass dort große Stückzahlen produziert werden könnten. „Den Apotheken fehlen hierfür die Fachkräfte, und gerade die Medikamente, an denen es besonders mangelt, wie etwa für krebskranke Patienten, können vor Ort gar nicht hergestellt werden.“ Zudem seien meist auch nicht nur die Arzneimittel, sondern auch die Grundstoffe von den Engpässen betroffen.
Lieferengpässe und niedrige Vergütung: Neue Streiks beim Deutschen Apothekertag geplant
Die Apotheker werden wohl ganz genau hinhören, was Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) auf dem Deutschen Apothekertag am Mittwoch, 27. September, zu sagen hat. Während der Ansprache des Ministers werden bundesweit zwischen 13 und 16 Uhr viele Apotheken schließen. Wie bei einer ähnlichen Aktion vor drei Monaten werden sich auch die hessischen Apotheken wieder daran beteiligen. Damals hätten weit über 90 Prozent der Apotheken im Land mitgemacht, sagt Schopbach. Zugleich hätte der Hessische Landesverband die Weichen für weitere Maßnahmen gestellt und einstimmig beschlossen, den Druck mit flächendeckenden, mehrtägigen Apothekenschließungen zu erhöhen. Die anderen Landesverbände würden das jetzt ebenfalls beschließen.
Primär geht es den Apothekern um ein höheres Fixum, das sie pro verkauftem verschreibungspflichtigen Medikament erhalten, also um eine bessere Vergütung. Diese sei in den vergangenen zwei Jahrzehnten trotz Inflation, gestiegener Mieten und Energiepreise sowie Tariferhöhungen fürs Personal nicht nennenswert angehoben worden, sagt Schopbach. (flon)