Vergangenheit begreifen lernen

Das Tagebuch des ostpreußischen Arztes Hans Graf von Lehndorff macht in seiner Authentizität wie kaum ein anderes Stück Literatur den Irrsinn des Zweiten Weltkrieges deutlich. Am Sonntag stand es im Zentrum eines beeindruckenden Festaktes wider das Vergessen.
Je größer der Abstand zum 8. Mai 1945 werde, desto weniger Menschen könnten eigenes Erinnern daran weitergeben. Desto wichtiger sei es, eine neue Basis des Erinnerns, des historischen Verstehens, zu schaffen, gleichsam als „Verpflichtung des Nie-wieder“, sagte Landrat Ulrich Krebs (CDU) am Sonntag beim zentralen Gedenkakt „70 Jahre Kriegsende“. Der Hochtaunuskreis hatte dazu gemeinsam mit der Taunus-Sparkasse in die Aula des Kaiserin-Friedrich-Gymnasiums eingeladen. Zahlreiche Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft waren gekommen. Im Mittelpunkt der Feierstunde stand das „Ostpreußische Tagebuch“ des Arztes Hans Graf von Lehndorff, in Abschnitten gelesen von dem Schauspieler Christian Berkel, untermalt vom Jugend-Sinfonie-Orchester Hochtaunus.
Krebs nannte den Anlass „janusköpfig“ – hier die Trauer, das stille Gedenken an zwölf Jahre Staatsterror und seine Opfer, da der Tag der Befreiung, das Ende einer historischen Katastrophe, die zum Fundament für Demokratie und Freiheit geworden sei. Hessen habe bereits seit 1946 eine demokratische Verfassung, die sich als „beglückend stabil“ erwiesen habe.
Dieses Fundament trage aber nur dann, „wenn wir aus der Geschichte lernen“, mahnte Krebs, sieht die Gesellschaft aber auf gutem Weg. Es sei kein Zufall, dass der Tag nach dem 8. Mai zum Europatag ausgerufen wurde: „Gemeinsam für Frieden und Freiheit arbeiten – dieses Erbe gehört uns allen“, sagte Krebs und dankte der Taunus-Sparkasse für ihr Mitwirken. Von ihr stamme die Idee, den Festakt ins 6. Poesie- und Literatur-Festival einzubinden und Schauspieler Christian Berkel für eine Lesung zu gewinnen.
Recht auf Wohlstand
Oliver Klink, Vorstandsvorsitzender der Taunus-Sparkasse, nahm den vom früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker geprägten Begriff „Tag der Befreiung“ zum Anlass, zwar dankbar einen Schlussstrich zu ziehen, mahnte zugleich aber, das durch den Krieg angerichtete Leid nie zu vergessen. Flucht sei damals zu unserem ständigen Begleiter geworden, bis heute, sagte Klink und leitete über zur aktuellen Flüchtlingsproblematik. Er nannte es das Recht aller Menschen, von Sicherheit, Wohlstand, Freiheit und Integration zu träumen. Unsere Region biete dafür beste Bedingungen: „Zuwanderung macht uns alle reicher!“ Aus Anlass des Jahrestages und zur Förderung der Integration junger Menschen hat die Sparkasse eine Stiftung für die nächsten fünf Jahre gegründet, von der er hoffe, dass sie durch private Einlagen möglicherweise verdoppelt werden kann, sagte Klink (siehe „ZUM THEMA“ rechts).
Mit ruhiger Stimme las Christian Berkel aus dem Tagebuch des Arztes Hans Graf von Lehndorff dramatische, den Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges schonungslos dokumentierende Passagen – fesselnd, aufrüttelnd, bedrückend, auf groteske Weise spannend und authentisch. Unterstrichen wurde die Dramaturgie durch wechselnde Schwarz-Weiß-Fotos; sie zeigten von Bomben zerstörte Städte und Dörfer, dann wieder Menschen auf der Flucht und das, was sie hinter sich lassen mussten: blühende Landschaften und wogende Getreidefelder, atemberaubend schöne Winterlandschaften und hohe Himmel – so schön war Ostpreußen.
Erschütternder Text
Die Zuhörer hingen an Berkels Lippen. Wäre eine Stecknadel gefallen, es hätte die Stille zerrissen wie Donner. Die sorgsam gewählte Musik, vom Jugend-Sinfonie-Orchester Hochtaunus unter Leitung von Lars Keitel professionell dargeboten, griff die sich steigernde Dramatik auf. Beethoven, Penderecki, Schostakowitsch und Hindemith, deutsche, polnische und russische Tondichter, machten diese denkwürdige Veranstaltung zu einer Mahnung gegen das Vergessen.
Hans Graf von Lehndorff beschreibt die Invasion Ostpreußens durch die Russen und den Exodus der deutschen Bevölkerung. Als Chirurg erlebte er den Untergang der ostpreußischen Provinz in allen Phasen – Chaos, Seuche, Hunger, menschenverachtende Gewalt. All das hielt er in seinem Tagebuch fest, das er erst 1947 aus vielen, über die lange Flucht in den Westen geretteten Erinnerungsfetzen zu einem erschütternden Ganzen zusammensetzte – Zeile für Zeile ein mahnendes Zeitzeugnis des Irrsinns. Sein unerschütterlicher Glaube an Gott und das Menschliche im Menschen, die Hilfsbereitschaft sowie sein Mut und seine Standhaftigkeit, schon lange nicht mehr an den den Menschen bis zum bitteren Ende eingehämmerten Endsieg zu glauben, dürften ihm dabei die Feder geführt haben. Berkel schloss seine Lesung in der Hoffnung, dass dieses Tagebuch die Menschen lehren möge, dieses Stück Vergangenheit zu begreifen, auf dass es sich niemals wiederhole.