Viele Kinder können keine Rolle vorwärts mehr

„Hessischer Bewegungscheck“ an Grundschulen im Hochtaunuskreis gestartet
Hochtaunus -Grazil balanciert Sophia über den Balken. Unter sich die Rückseite einer Holzbank, setzt die Achtjährige einen Schritt vor den anderen und lässt sich auch von einigen ziegelförmigen Gummi-Hindernissen nicht aufhalten. Selbst in der Rückwärtsbewegung muss sie nicht absteigen. Etwas schwankend und mit den Händen umherwirbelnd jongliert sie zurück. In der Sporthalle der Oberurseler Grundschule Mitte ist die Drittklässlerin aber auch auf vertrautem Terrain. Seit mehr als zwei Jahren spielt sie Tennis beim TC Oberursel. „Das macht einfach Spaß. Ich habe dort schon Pokale und Medaillen gewonnen“, erzählt Sophia stolz.
Sport und Bewegung sind für die Grundschülerin keine Fremdwörter, für andere Kinder in Deutschland aber schon. Wenige haben in Zeiten von PC und Smartphone ausreichend Bewegung. Oft fielen den Kindern schon einfachste Übungen wie Seilspringen oder Rückwärtslaufen schwer, sagt der Vorsitzende des Sportkreises Hochtaunus, Norbert Möller. „Viele sind mittlerweile so bewegungsunfähig, da muss etwas getan werden“, ist er überzeugt.
Check an 12 Stationen
Damit sich das ändert, sind Möller und einige Helfer vom Sportkreis in der Oberurseler Schule. Als erste Grundschule im Hochtaunuskreis nimmt die Bildungseinrichtung am „Hessischen Bewegungscheck“ teil. Dabei handelt es sich um eine Aktion der beiden Hessischen Ministerien des Inneren und für Sport sowie für Kultur, die seit dem vergangenen Jahr läuft. Auf einem vom Institut für Sportwissenschaften der Frankfurter Goethe-Universität konzipierten Parcours mit zwölf Stationen sollen künftig in allen dritten Klassen des Landes die motorischen Fähigkeiten der Schüler getestet werden. „Das Ziel ist, diagnostische Erkenntnisse über die grundlegenden konditionellen Eigenschaften und sportübergreifende Kompetenzen zu gewinnen“, erklärt Möller.
„Wer sich bewegt, fühlt sich wohler, lebt gesünder und hat mehr Energie“, sagt Kultusminister Dr. Alexander Lorz (CDU) beim Auftakt in der Schule vor einigen Dutzend geladenen Gästen. Der Hochtaunuskreis ist der vierte Landkreis in Hessen, der mitmacht. Dabei soll es nicht bleiben, stellt der Minister klar. „Wir wollen den Bewegungscheck flächendeckend im Land durchführen.“
Innenminister Peter Beuth (CDU) bedankt sich vor allem beim Sportkreis. 24 Helfer hat die Organisation an der Goethe-Universität ausbilden lassen. Sie absolvieren die Tests mit den Kindern an den Schulen. „Das ist keine Selbstverständlichkeit“, meint Beuth. Wichtig sei auch der Zugang zu den im Sportkreis organisierten Vereinen. „Darin liegen der Mehrwert und die große Chance, Kinder nicht nur für Bewegung zu begeistern, sondern auch in den organisierten Sport zu bringen“, sagt er.
Ergebnisse werden an der Uni ausgewertet
Landrat Ulrich Krebs (CDU) betont den wissenschaftlichen Aspekt der Aktion, bei der die Testergebnisse nicht nur gesammelt, sondern auch an der Universität ausgewertet werden. Schulen und Eltern erhalten anschließend eine Rückmeldung, wo Nachholbedarf besteht. „Es ist gut, dass den Kindern individuell geholfen werden kann“, sagt Krebs.
Bislang haben sich 13 der 39 öffentlichen Grundschulen im Kreis für den freiwilligen Check angemeldet. Das könnten mehr sein, findet Möller und bittet um Unterstützung. „Wir werden weiter dafür werben“, verspricht Lorz. Angesichts der Erfahrungen aus den anderen Kreisen habe er keine Zweifel, „dass bald die meisten mitmachen werden.“
Die Grundschule Mitte beteiligt sich gerne, sagt Schulleiter Clemens Steden. „Uns ist das sehr wichtig.“ Gerade auf den Schnuppertagen vor der Einschulung zeigten sich oft die „großen Bewegungsdefizite“ beim Nachwuchs, den Carlo Thielmann von der Krankenkasse Barmer - ebenso mit im Boot wie die Unfallkasse Hessen - statistisch untermauert. Bei 14 800 Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren in Hessen sei 2022 eine motorische Entwicklungsstörung diagnostiziert worden - das waren 34 Prozent mehr als 2006.
In der Turnhalle versuchen sich die Drittklässler derweil an den zwölf Stationen. „Vier sind fähigkeitsorientiert, etwa mit Bällen, vier weitere testen Kraft und Schnelligkeit und in den restlichen Stationen geht es um den eigenen Körper, also Laufen, Balancieren und Rollen“, erklärt Dr. Christopher Heim vom Institut für Sportwissenschaften. Ein Schüler hängt an der Sprossenwand, andere werfen Bälle auf eine Zielscheibe, springen mit dem Hüpfseil oder probieren die Rolle vorwärts. Die bereitet vielen Probleme. „Das können die meisten nicht“, sagt Peter Kohl. Gemeinsam mit fünf weiteren Helfern leitet er die Kinder durch den Parcours. Auf Tablets notieren die Helfer die Ergebnisse, etwa wie schnell die Kinder die 20 Meter zwischen zwei Zeitmessgeräten absolviert haben. Schwierigkeiten haben viele auch mit dem Seilspringen, „besonders die Jungs können das oft nicht so gut“, sagt Kohl, und beim Rumpfbeugen (Sit-up) auf der Matte. Eine Minute in leicht aufgerichteter Position war eigentlich vorgesehen, größtenteils ist jetzt schon nach 20 Sekunden Schluss.
„Die Sit-ups waren am schwersten. Das hat am Bauch irgendwann weh getan“, sind sich Luise, Amelie und Zoe einig. Und auch das Hängen an der Sprossenwand hätte leichter sein können, „weil man da so schnell abgerutscht ist“, sagt Zoe (8). Dafür sei der Sprint auf Zeit ziemlich „cool“ gewesen, ergänzt Klassenkameradin Amelie (8). Sie zieht ein positives Fazit des sportlichen Vormittages. „Das hat auf jeden Fall viel Spaß gemacht“, findet die Drittklässlerin.