Wo sich keiner hintraut
Hochtaunus . Die Straße ist so gut wie leer. Es sind kaum Autos unterwegs - nur einige zerbeulte stehen am Straßenrand, sind unter Schutt begraben. Ein Blick aus dem Fenster zeigt das Ausmaß der Zerstörung: Überall liegen Trümmerberge, Steine und Scherben. Manche Häuser wirken so, als hätte man sie in der Mitte zerrissen und einige sind komplett eingestürzt.
Kabel und Stäbe ragen aus den offenen Dächern heraus. Plötzlich geht ein Ruckeln durch den Wagen. Es dauert nur einige Sekunden und fühlt sich an, als wäre die vierköpfige Gruppe um Ibo Fidan auf einem Schiff. Ein Nachbeben, wie es sie tagtäglich mehrmals in unterschiedlicher Länge und unterschiedlicher Stärke noch gibt.
»Wir fahren dahin, wo sich keiner hintraut«, sagt Ibrahim Fidan über die Hilfsmission, auf der er sich nun schon zum dritten Mal befindet. Alle kennen ihn als Ibo. Der 47-Jährige kommt aus Friedrichsdorf und arbeitet in Bad Homburg. Mit »dahin« meint er Kahramanmaras. Das ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz Kahramanmaras im südlichen Teil Anatoliens in der Türkei. Sie liegt etwa 100 Kilometer nördlich der syrischen Grenze und rund 150 Kilometer ost-nordöstlich der Stadt Adana. Das verheerende Erdbeben in der Türkei und in Syrien liegt nun schon einen Monat zurück, aber dort unten wird noch immer dringend Hilfe benötigt. Ibo Fidan will helfen. Und er wollte sehen, dass das, was er macht, auch wirklich ankommt. Deswegen überbringt er seine Spenden persönlich. Er sammelte Geld in seinem Freundes- und Bekanntenkreis und flog schon wenige Tage nach dem Beben zum ersten Mal nach Adana.
»Und dann steht da dieses Gebäude vor dir. Ein Gebäude, das vorher so erhaben war. Zusammengefallen wie ein Kartenhaus«, teilt Ibo Fidan seine Eindrücke. Die Lage im Erdbebengebiet ist gefährlich, räumt der 47-Jährige ein. Nicht nur wegen der Nachbeben: »Teilweise werden Lastwagen gestohlen, Fahrer werden entführt und durch die Städte ziehen Plünderer.«
Hohe Gebäude noch gesperrt
Es gibt mindestens 50 000 Tote, viele Leichen konnten noch nicht geborgen werden. Und Ibos Darstellung muss um einen weiteren Sinn ergänzt werden, denn in vielen eingestürzten Gebäuden befinden sich noch Leichen. Das heißt diese grausame Szenerie wird noch dadurch ergänzt, dass sich in den Städten der süßliche Duft der Fäulnis ausbreitet.
Chaos und viele Gefahren
Es gibt 214 000 eingestürzte oder einsturzgefährdete Gebäude und elf fast vollständig zerstörte Großstädte allein in der Türkei. Hinzukommen Millionen von Menschen, die ihr Zuhause verloren haben und dringend Hilfe benötigen. Hilfe, die Ibo Fidan leistet, denn: »Es gibt tatsächlich noch immer Gebiete, die keinerlei Unterstützung bekommen.«
Nach seiner Ankunft in Adana ist Fidan mit dem dort ansässigen Verein »Adana Yrdim ernegi« in Kontakt getreten. Mit anderen Mitgliedern zusammen kauft er im Großhandel alles Nötige und plant die Verteilung - sofern sie planbar ist, denn »in den Städten kann es sehr chaotisch zugehen«.
Über seine schwarze Jacke hat Ibo eine neongelbe Warnweste gestreift. Mit im Auto sitzen zwei Frauen und ein Mann - Helfer der lokalen Initiative. Das Auto ist bis zur Decke gefüllt mit Paketen. Auch der Fußraum vor dem Beifahrersitz ist zugestellt. Zwischen Ibos Beinen sind Stangen platziert, »für die Zelte«, erklärt er. »Vom Flugzeug aus konnte ich es sehen«, erzählt Fidan, »die Häuser sind alle schwarz, die Lichter sind aus.« Einige Gemeinden haben Verbote ausgesprochen sie zu betreten. Aber viele Menschen haben - so Fidan - ohnehin zu große Angst um in die einsturzgefährdeten Gebäude, wo sich ihr ganzes »Hab und Gut« befindet, zurückzukehren.
In den Paketen im Auto sind Schlafsäcke, Isomatten, Handschuhe und vor allem Unterwäsche, denn Unterwäsche ist dort Mangelware, »eben alles was gebraucht wird. Auch Windeln und Binden, bringen wir zu den Menschen.« Natürlich verteilen sie auch Lebensmittel, wie Reis, Nudeln, aber auch manchmal Süßigkeiten, um vor allem den Kindern eine Freude zu bereiten. »Die Kinder sind so still. Man denkt, es geht ihnen gut, aber Tatsache ist, dass viele ihre gesamte Familie verloren haben.«
Warum ist Ibo dort? »Mir ist wichtig, dass die Menschen, die Hilfe brauchen, nicht vergessen werden.«