Chronic-Fatigue-Syndrome-Experte Dr. Wilfried Bieger im Interview: „Das große Pech für CFS-Patienten ist, dass es dagegen kein Medikament gibt“
Was kennzeichnet das Chronic Fatigue Syndrome? Warum ist sein Ursprung noch nicht geklärt? Lässt sich die Krankheit behandeln, und warum ist sie bei Ärzten und in der Öffentlichkeit noch so unbekannt? Im Interview mit Christian Weihrauch nimmt Experte Dr. Wilfried Bieger aus München Stellung.
Was kennzeichnet die Krankheit?
DR. WILFRIED BIEGER: Es gibt keine beweisenden Parameter, keine beweisende Diagnostik. Sie ist eine Zusammenstellung von Symptomen. Wenn die entsprechenden Vorgaben erfüllt sind, nennt man das Ganze Chronic Fatigue Syndrome, kurz CFS. Das ist ein sehr unbefriedigender Zustand für die Betroffenen, weil es noch keine erfolgreiche Behandlung gibt.
Sie haben von verschiedenen Symptomen gesprochen. Um welche handelt es sich denn genau?
BIEGER: Es gibt zwei Kernsymptome: Die Fatigue (deutsch: Erschöpfung) muss mindestens ein halbes Jahr bestehen und die Leistungsfähigkeit des Betroffenen um mehr als 50 Prozent einschränken. Experten haben zudem jetzt herausgefunden, dass sich CFS vor allem in einem Punkt von anderen Formen der Fatigue unterscheidet: Der Zustand des Patienten verschlechtert sich nach Aktivitäten – mindestens ein, zwei Tage, möglicherweise auch längere Zeit.
Welche unterschiedlichen Ausprägungen hat CFS?
BIEGER: Es gibt Betroffene, die haben wesentliche kognitive Einschränkungen und dafür keine physischen Einschränkungen – oder umgekehrt. Aber meist läuft es parallel. Die körperlichen Einschränkungen können von minimal bis so schwerwiegend sein, dass die Betroffenen die ganze Zeit bettlägrig sind.
Sind Ärzte in Deutschland ausreichend über die Krankheit informiert?
BIEGER: Nein, CFS wird größtenteils abgelehnt. Die Allgemeinmediziner haben in ihren Richtlinien stehen, dass es bei Verdacht auf Fatigue keine Diagnostik geben soll, weil dabei nichts herauskommt und es nur ’rausgeschmissenes Geld’ ist. Das zeigt, wie sehr man da an die Diagnose glaubt.
Was denken Sie denn, woran das liegt?
BIEGER: Voreingenommenheit in der Medizin. Die Medizin ist stark geprägt von Meinungen. Es gibt die Chefmeinungen und die von der Pharmaindustrie induzierte Meinung. Das große Pech für CFS-Patienten ist, dass es dagegen kein Medikament gibt. ADHS ist eine Diagnose geworden, als es dagegen ein Medikament gab. Die CFS-Betroffenen leiden natürlich darunter, dass es keine vernünftige Behandlung gibt.
Das ist für die Patienten sicherlich unbefriedigend...
BIEGER: Das ist total frustrierend. Wenn jemand schwer unter CFS leidet und ein Schmerzsyndrom entwickelt, kann es natürlich sein, dass er in eine Depression rutscht.
Wie kann man die Krankheit am besten behandeln? Gibt es da überhaupt einen Königsweg?
BIEGER: Es gibt sehr viele Möglichkeiten, dass eine Fatigue als tragendes Symptom entsteht. Es geht darum, die Erkrankungen auszuschließen, von denen man weiß, dass sie häufig mit einer Fatigue verbunden sind. Interessanterweise sind das überwiegend Erkrankungen, bei denen das Immunsystem aktiviert ist. Bei Autoimmunerkrankungen gibt es Fatigue als sehr häufiges und schweres Symptom. Es gibt sie bei Tumorpatienten, die sogenannte Tumorfatigue, oder bei chronischen Infektionen. Bei den chronischen Immunopathien ist eine Fatigue immer dabei. Da schaut man genau hin, ob eine chronische Infektion oder ähnliches vorliegt. Die Schilddrüse spielt eine große Rolle. Man muss ebenfalls schauen, ob aufseiten der hormonellen Regulation Störungen vorliegen. Man hat schon vor Jahren beobachtet, dass die Aktivität der Cortisolsekretion bei den Betroffenen häufig reduziert ist. Viele faseln dann davon, dass eine Nebennierenschwäche vorliegt, doch das ist völliger Blödsinn. Die Nebenniere ist völlig in Ordnung. Es liegt eine zentrale Störung vor, von der wir jedoch nicht die Hintergründe kennen.
Und die Behandlung im Speziellen? Wie gehen Sie vor?
BIEGER: Ich selbst schaue mir an, was für eine Fatigue verantwortlich oder mitverantwortlich sein könnte. Dafür ist für mich ausschlaggebend, dass die Fatigue in schwerer Form vor allem bei Autoimmunerkrankung vorkommt. Dabei ist das Immunsystem chronisch aktiviert.
Wird in Deutschland genug geforscht?
BIEGER: Wir kennen die näheren Hintergründe der Krankheit nicht, weil viel zu wenig daran geforscht wird. In Deutschland wird nach meiner Kenntnis überhaupt nicht ernsthaft geforscht. Einzige Ausnahme ist die Berliner Charité. Da läuft ein bisschen was in der Richtung – sonst in Deutschland überhaupt nicht.
Ist das einer der Gründe, weshalb der Ursprung der Krankheit noch nicht bekannt ist?
BIEGER: Natürlich. Ich denke, es ist eine reine Frage des Aufwandes. Die Ursache muss geklärt werden. Diese ist offensichtlich schwierig zu finden, sonst hätten wir sie schon gefunden.
Die Krankheit gilt als unheilbar.
BIEGER: Das weiß man ja nicht. Ich würde nicht sagen, dass sie nicht auch spontan abklingen kann. Vielleicht weiß man ja auch in ein paar Jahren entscheidendes mehr und kann CFS gezielt behandeln. Nach aktuellem Stand ist es aber eine chronisch verlaufende Erkrankung, bei der es unwahrscheinlich ist, dass sie spontan von alleine abklingt.
Gibt es solche Fälle?
BIEGER: Ja, aber da ist natürlich immer die Frage, ob es überhaupt CFS gewesen ist. Wir gehen mit der Diagnose CFS sehr großzügig um. Ob es sich dabei allerdings wirklich um CFS handelt und ob die Kriterien wirklich auch alle erfüllt sind, ist aus meiner Sicht fraglich.
Gibt es Krankenhäuser in Deutschland, die auf eine Behandlung spezialisiert sind?
BIEGER: Nein, die gibt es nicht und wird es in Deutschland wohl auch nicht so schnell geben. Für normale Krankenhäuser ist es sehr unbefriedigend, weil CFS in der Diagnostik recht teuer ist und man keine Medikamente zur Hand hat. Also wird man sich nicht darum reißen, für solche Fälle einen Schwerpunkt aufzubauen.
Woran liegt es, dass die Krankheit in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist?
BIEGER: Ein Grund ist sicherlich, dass die Leute nicht sterben. Bei Aids zum Beispiel hatte das eine ganz andere Wucht, weil die Menschen weggestorben sind. Da konnte man die Krankheit nicht bestreiten. Ein weiterer Grund ist wohl, dass die Betroffenen normal wirken. Man sieht ihnen nicht an, dass sie etwas haben. Das ist natürlich ein Problem, weil wir darauf angewiesen sind, was die Betroffenen sagen. Das ist nur mit sehr großem Aufwand objektivierbar. Es gibt zum Beispiel eine molekulargenetische Untersuchung, wie sich die Fatigue bei CFS und multipler Sklerose unterscheidet. Diese haben gezeigt, dass ein völlig anderes Muster entsteht. Aber das ist für die Praxis natürlich nicht geeignet. Das würde kein Mensch machen. Dafür ist einfach kein Geld da.
Das heißt, es scheitert oft an den finanziellen Mitteln?
BIEGER: Es scheitert total am Geld. In Deutschland wird im wissenschaftlichen Bereich kaum Geld für CFS ausgegeben. Das ist in den USA anders. Dort sind offensichtlich Kinder und Angehörige von einflussreichen Menschen betroffen. Einer hat zum Beispiel gleich ein ganzes Forschungsinstitut bezahlt. In Stanford gibt es ebenfalls eine Gruppe, die mit viel Geld und großem Aufwand dabei ist, das Thema wissenschaftlich zu durchleuchten.