"Demokratie braucht direkte Interaktion"

Wenn nach der Kommunalwahl am 14. März die Stimmen ausgezählt sind, zeichnet sich auch ab, wer künftig als Vorsitzender der Stadtverordnetenversammlung amtiert. Derzeit bekleidet Jens Grode das Amt. Unser Mitarbeiter Ralph Keim sprach mit ihm über die Herausforderungen, die dieses Amt besonders in Coronazeiten mit sich bringt und welche Rolle auch der Humor dabei spielt.
Herr Stadtverordnetenvorsteher, erinnern Sie sich noch, wie und mit welchen Gedanken Sie Silvester 2019/2020 gefeiert haben?
JENS GRODE: Ja, entspannt wie eigentlich immer und mit mehr Freunden als zuletzt, aber ohne viel Gedanken. Ich nehme die Dinge, wie sie kommen.
Doch dann kam Corona. Hätten Sie sich im Februar vorstellen können, was auf die Gesellschaft zukommen sollte?
Nein, da waren wir wohl alle vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Es zeigt aber insgesamt, wie stabil demokratische Gesellschaften sind. Trotz einer Minderheit an Verschwörungstheoretikern und Corona-Leugnern ist die große Mehrheit mit den schwierigen Einschränkungen von grundgesetzlich garantierten Bürgerrechten einverstanden.
Wann und wie mussten Sie in Bezug auf Corona erstmals als Stadtverordnetenvorsteher reagieren?
Wir waren früh betroffen, weil wir ja überlegen mit Blick auf die vier Ausschüsse und die Stadtverordnetenversammlung mussten, ob und wie wir tagen. Nur kurz hatte der Hauptausschuss alle demokratischen Funktionen übernommen, dann sind wir im Ältestenrat schnell wieder dazu gekommen, dass wir wieder in allen Ausschüssen und der Stadtverordnetenversammlung tagen, natürlich mit Abstand und mit Maske. Das Rathaus haben wir daher mit der Stadthalle getauscht.
Hat Corona die politische Kultur in Rüsselsheim beeinflusst?
Ja und nein. Wir haben uns darauf eingestellt, mit Maske zu tagen und zu debattieren. Der Austausch vor, nach und zwischen Sitzungen ist natürlich eingeschränkt. Fraktionssitzungen fanden und finden online statt. Aber es war auch klar, dass Demokratie die direkte Interaktion braucht. Eine Online-Sitzung ist etwas anderes in der Qualität der Kommunikation wie eine Präsenzsitzung. Kommunikation besteht nicht nur aus Schrift und Wort am Bildschirm, sondern auch aus Körpersprache, Tonfall und Mimik. Diese Kommunikationselemente sind nur vollständig, wenn man sich mit körperlicher Anwesenheit austauscht, gerade wenn es komplex und auch mal emotional wird.
Gehen wir zurück zur Kommunalwahl 2016. Mit welchem Antrieb haben Sie sich damals für das Amt des Stadtverordnetenvorstehers zur Verfügung gestellt?
Zur Politik gehört es, Verantwortung zu übernehmen. Dazu war und bin ich bereit. Das Amt fordert insbesondere kommunikative Fähigkeiten, kommunalpolitische Erfahrung und die Freude, unsere Stadt positiv zu repräsentieren. Ich sage selbstbewusst, dass mir das liegt. Ob es dem Amt würdig ist oder war, müssen andere beurteilen.
Der Vorsitzende eines solchen Gremiums muss freilich weitaus mehr tun, als die Rednerliste abhaken. Richtig?
Ja, aber es findet viel hinter den Kulissen und im nicht-öffentlichen Ältestenrat statt. Dies kostet Zeit und Engagement. Es gibt Bürger und Bürgerinnen, die sich direkt an mich wenden, und um Hilfe bitten. Darüber rede ich im Detail aber natürlich nicht öffentlich. Weiterhin habe ich zu Beginn meiner Amtszeit erklärt, dass ich mich für die lokale Demokratie und die stärkere Identifizierung der Bürgerinnen und Bürger mit unserer Stadt einsetzen werde. Mit kleinen Projekten wie zum Beispiel mit dem Hörbuch "Geschichte und Geschichten aus Rüsselsheim am Main", welches ich mit lokalen Hobby-Historikern und Radio Rüsselsheim erstellt habe, wollte ich dies untermauern. Aber auch die Reihe "Interessante Menschen und Wohnhäuser" war ein solcher Beitrag. In vielen öffentlichen Reden und Beiträgen auch auf den sogenannten Sozialen Netzwerken, war und ist mir die Verteidigung und die Werbung für die Demokratie wichtig. Ebenso bei Diskussionen mit Schülern. Die Möglichkeiten der modernen Kommunikationsmittel nutze ich gerne und erstelle zum Beispiel Podcasts über den "Maschinenraum der Demokratie", wie ich die Stadtverordnetenversammlung gerne nenne. Nicht minder wichtig sind Bürgerversammlungen. Zu den Feinden der Demokratie äußere ich mich immer sehr eindeutig. Leider gab es dazu auch Gelegenheit wie der Mord an Walter Lübcke. Dazu habe ich als Stadtverordnetenvorsteher in der STVV klar Stellung bezogen. Auf meine Anregung hin wurde in der Geschäftsordnung der STVV die mögliche Sanktionierung bei Verunglimpfung von Menschen etwa wegen ihrer ethnischen-kulturellen Herkunft oder ihrer sexuellen Orientierung verschärft. Das war mir wichtig insbesondere für die künftige Stadtverordnetenversammlung.
Bei zehn Parteien, Gruppierungen und Listen in der Stadtverordnetenversammlung sowie einem Einzelkämpfer könnte man bei den Sitzungen mitunter chaotische Abläufe vermuten. Wie bewerten Sie diesen Umstand?
Die Zersplitterung des Parteiensystems ist ein grundsätzliches Problem. Demokratie braucht am Ende Mehrheiten, am besten stabile. Diskussionen und auch Streit in der Sache sind zwar essenziell, aber es muss irgendwann auch entschieden werden. Wir haben auf meinen Vorschlag hin deshalb die Redezeit begrenzt. Die Zersplitterung der organisierten Interessen geht aber noch tiefer, da die Bindungskräfte der traditionellen Parteien schwinden. Man muss dann fragen, inwieweit mehr direkte Demokratie tatsächlich mehr Demokratie bringt oder ob ab einem gewissen Grad verstärkt Partikularinteresse entstehen, die dem Gemeinwohl entgegenstehen können oder auch eher populistischer Natur sind. Die Bürger müssen am Ende entscheiden, wo Vor- und Nachteile liegen. Wir haben in den vergangenen Jahren mehr Elemente der direkten Demokratie in unser kommunales politisches System aufgenommen wie die Direktwahlen des Oberbürgermeistern, Bürgerentscheide oder das Kumulieren und Panaschieren bei der Kommunalwahl. Dies haben wir verinnerlicht. Darüber hinaus bin ich ein entschiedener Anhänger der Repräsentativen Demokratie.
Gab es in all den Jahren auch schon einmal Sitzungen, bei denen Sie dachten: Was mach ich hier eigentlich?
Ehrlich gesagt: Ja! Zum Glück selten gibt es Verhaltensweisen von einzelnen Stadtverordneten, bei denen man sich eine intensive Nachschulung in Sachen Kinderstube wünscht. Weiterhin nimmt bei zunehmender Länge von Debatten manchmal die Qualität dieser soweit ab, dass man zu dieser Frage kommt.
Was war in den vergangenen Jahren das signifikanteste Erlebnis als Vorsitzender der Stadtverordnetenversammlung?
Als ich auf dem Friedhof in Evreux anlässlich der Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs einen Kranz im Angesicht der Soldatengräber, der französischen Veteranenverbände und zahlreicher Bürgerinnen und Bürger von Evreux sowie Repräsentanten der Stadt und der Region niedergelegt habe, spürte ich kurz Gänsehaut.
Angenommen, die Mehrheitsverhältnisse würden es zulassen: Würden Sie auch in der kommenden Legislaturperiode als Vorsitzender amtieren?
In der Politik gibt es Ämter nur auf Zeit. Sollte eine politische Mehrheit es aber für sinnvoll und hilfreich erachten, dann drücke ich mich nicht vor der erneuten Verantwortung. Davor steht allerdings der Souverän, also die Rüsselsheimer Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Wahl. Da die Herausforderungen bei der neuen, eventuell noch ausdifferenzierteren STVV zunehmen, wünsche ich mir - zum Wohle unserer lokalen Demokratie - allerdings eine Person mit Erfahrung und viel Gelassenheit für das Amt. Humor hilft übrigens auch.