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„In der Kommunalpolitik spielt die Musik“

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Ort der Entscheidungen: Im Rüsselsheimer Ratssaal kommen die Stadtverordneten zusammen.  archivfoto: robin göckes
Ort der Entscheidungen: Im Rüsselsheimer Ratssaal kommen die Stadtverordneten zusammen. archivfoto: robin göckes © Robin Göckes

Große Bedeutung, geringes Interesse: Ein Politikwissenschaftler erklärt, warum dies so ist

Björn Egner, Politikwissenschaftler an der TU Darmstadt, hat gleichsam am offenen Herzen der Kommunalpolitik geforscht. Er kennt die Besonderheiten von Lokalpolitik aus dem Effeff, auch deren besondere Chancen und ist ein Kommunalpolitik-Erklärer par excellence. Zum Auftakt der neuen Serie "Hier fallen die Entscheidungen - Kommunalpolitik richtig gut erklärt" sprach mit ihm Sylvia A. Menzdorf.

Ist Kommunalpolitik sexy?

Wenn sexy gleichbedeutend ist mit hochangesehen und spannend, muss ich sagen: oft leider nein. Wenn es wichtig bedeutet, antworte ich mit einem klaren Ja. Kommunalpolitik ist die wichtigste Ebene und Form der Gestaltung der elementaren Bedürfnisse unserer Gesellschaft.

Warum ist die Mehrheit der Wähler so uninteressiert an Kommunalpolitik und -wahlen? Die Wahlbeteiligung ist regelmäßig dramatisch schlecht. In Rüsselsheim lag sie 2016 bei 38,5 Prozent.

Wäre ich zynisch, würde ich sagen: Dann ist die Mehrheit wohl zufrieden mit ihren Kommunalpolitikern und deren Arbeit. Bin ich aber nicht. Aus Untersuchungen ist bekannt, dass Landtags- und Bundestagswahlen in der öffentlichen Wahrnehmung eine weitaus größere Rolle spielen. Bund und Länder drehen politisch das große Rad. Sie weisen Kommunen, Landkreisen Mittel und Aufgaben zu. Tatsache ist: Ab da wird es aber eigentlich richtig interessant. Ab da wird die Musik gespielt, auf der kommunalen Ebene nämlich: Werden die übertragenen Aufgaben wahrgenommen und wenn ja, wie? Wie gestalten kommunale Entscheidungsträger diese Aufgaben aus, wie beteiligen sie die Bürger und wie geben sie öffentliche Zuschüsse aus. Da wird Politik erlebbar. Wähler sollten die Möglichkeit, das Personal für diese Aufgaben vor ihrer Haustür per Wahlvotum auszusuchen, unbedingt wahrnehmen.

Kommunalpolitik haftet ja oft das Image hausbackener Behäbigkeit an. Oft ist eher abfällig von "Kirchturmpolitik" die Rede. Nur auf dem Land oder auch in Großstädten?

Politik in Städten ist keineswegs grundsätzlich spannender und weniger schwerfällig als auf dem Land. Es gibt total verschlafene Großstädte, nehmen wir mal die Landeshauptstadt Hannover als Beispiel, wo Kommunalpolitik eher langweilig ist. Ganz anderes Bild in Stuttgart: Beim Verkehrsprojekt Stuttgart 21 etwa haben Bürger sich aktiv und selbstbestimmt eingemischt, haben Mitsprache eingefordert. Relevante Aspekte des Großprojekts wurden öffentlich abgewogen. Kommunalpolitik kann wahnsinnig anstrengend sein. Aber sie ist offen für die unmittelbare Mitsprache der Bürger. Das gilt für ländliche Regionen nicht anders. Der Ausbau eines Radweges, einer Kita, einer Umgehungsstraße kann ähnlich bedeutend für die Region, ähnlich anstrengend und überaus erfolgreich sein.

Wie könnten Kommunalpolitiker Wähler für ihre Arbeit begeistern und ist das überhaupt wichtig?

Begeisterung ist vielleicht die falsche Kategorie. Ein solides, nachhaltiges Interesse der Wähler wäre gut und für viele Kommunalpolitiker bestimmt wichtig. Ganz oft fehlt ihnen der Rückkanal. In kleinen Kommunen ist das oft anders. Da trifft man den Bürgermeister oder den Bauausschussvorsitzenden mal beim Einkaufen und spricht ihn direkt an. Das passiert in Großstädten wie Frankfurt so eher nicht. Da kennen ganz viele Bürger das politische Personal unterhalb der Ebene von Oberbürgermeister und hauptberuflichen Dezernenten gar nicht. Wichtig für eine lebendige Gestaltung der Politik auch in Großstädten ist das gegenseitige Interesse aneinander: Der Bürger an den mehrheitlich ehrenamtlich tätigen Politikern - und umgekehrt.

Kommunalpolitikern könnte ein weitgehend hermetischer Betrieb, in dem sie unter sich sind und der Wähler nicht mit Einmischung stört, ja durchaus recht sein. Den Wählern vielleicht auch, weil sich ja die gewählten Parteienvertreter schon kümmern....

Kann man so machen: alle fünf Jahre wählen gehen oder es lassen, und das war's dann. Das ist legitim. Ob das eine gute Grundeinstellung ist, kann man diskutieren. Wer darauf verzichtet, wenigstens mit lebendigem Interesse an der Gestaltung gesellschaftlicher Belange in seiner unmittelbaren Umgebung teilzunehmen, sollte sich dann aber nicht beschweren über angebliche oder tatsächliche Versäumnisse. Und auch nicht über den entrückt erscheinenden politischen Betrieb. Der ist nämlich oft Folge des Desinteresses der Bürger.

Wie können Politiker Verdrossene zurückgewinnen?

Indem sie Bedingungen schaffen, mit denen Bürger in Beteiligungsprozesse eingebunden werden. Das hat den zusätzlich belebenden Effekt, dass verstetigte Milieus aufgebrochen und belebt werden.

Das müssen Sie erklären.

In der weitgehend von Ehrenamtlichen getragenen Kommunalpolitik trifft man häufig die Vertreter gewisser Berufsgruppen an: Lehrer, Oberstudienräte, Juristen und so weiter. Wenn sich daran kaum etwas ändert, verstetigt das Milieus und Beschlussfindungsprozesse. Natürlich wissen wir alle, wie wahnsinnig schwer es ist, überhaupt Personal für die Kommunalpolitik zu rekrutieren. Je offener die Beteiligungsbedingungen sind, desto interessanter könnte es werden für grundsätzlich Interessierte. Bewährtes Verfahren ist die sogenannte Planungszelle. Das ist eine Gruppe von vielleicht 25 zufällig ausgewählten Personen, die für kurze Zeit, vielleicht eine Woche, von ihren beruflichen Verpflichtungen freigestellt werden, um mitzuarbeiten an Lösungsvorschlägen für ein konkretes Projekt in der Kommune. Die Vorschläge werden anschließend in Kleingruppen beraten. Das hört sich alles ungeheuer mühsam an, ist es gelegentlich auch. Aber wer da einmal mitgemacht hat, der macht die Erfahrung: Ich kann etwas bewegen, ich habe den Unterschied gemacht. Mit solchen Erfahrungen sind Menschen auch dauerhaft für Kommunalpolitik zu gewinnen.

Wahlkampf als Schaulaufen um die Wählergunst ist in Corona-Zeiten kaum möglich. Was raten Sie?

Plakatwerbung ist ja unabhängig von persönlicher Präsenz der Kandidaten. Aber die Kür, das Überreichen von Rosen auf der Straße oder vor dem Supermarkt, die Diskussion am Stand auf dem Marktplatz fällt aus. Das muss nicht unbedingt ein Mangel sein. Jetzt ist Kreativität gefordert, weil die alten Wahlkampf-Rituale gerade nicht funktionieren. Wer sich damit begnügt, Videos auf Facebook zu posten, wird sich nur innerhalb seiner eigenen Filterblase bewegen und die breite Wählerschaft nicht erreichen. Jetzt werden eigentlich ganz unfreiwillig die Karten noch mal neu gemischt. Forscher werden das, was in den nächsten Wochen passiert, mit großem Interesse beobachten und analysieren.

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