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Unterwegs im wilden Amerika

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Drei Monate war Fredy Gareis mit Hobos, den obdachlosen Vagabunden Amerikas, unterwegs. Illegal reisen sie auf Güterzügen durch das Land, immer auf der Suche nach der Freiheit. Redakteurin Stella Lorenz hat mit dem Rüsselsheimer über seine Zeit dort gesprochen.

Obdachlosigkeit ist eigentlich kein Lebensstil, der erstrebenswert ist. Trotzdem haben Sie sich dafür entscheiden, drei Monate lang als Vagabund mit den Hobos umherzuziehen. Was hat sie daran fasziniert?

FREDY GAREIS: Ich habe amerikanische Geschichte studiert und war schon immer Fan der Bücher von Mark Twain oder Jack London. Da drüben gibt es eine Weite und Freiheit, die man sich als Deutscher nur schwer vorstellen kann. Im Gegensatz kommt mir unser Land oft vor wie ein zwei Nummern zu enger Schuh. Mit den Hobos auf Güterzügen durch die Gegend zu ziehen ist das letzte waschechte amerikanische Abenteuer.

Wie kam das Interesse an den Hobos zustande?

GAREIS: Vor ein paar Jahren bin ich mit dem Fahrrad von Israel nach Berlin gefahren und habe einen ehemaligen Hobo aus Texas getroffen. Der hat mir von der Schattenwelt auf den Gleisen erzählt, von Menschen, die wie aus der Zeit gefallen wirken, weil sie das Glück nicht wie viele andere Amerikaner auf Kontoauszügen suchen, sondern im Unterwegssein. Das Thema hat mich einfach nicht mehr losgelassen, und ich wusste, dass ich das mit eigenen Augen, am eigenen Leib erfahren will.

Bob Dylan zeichnet in seinem Song „Only a hobo“ ein melancholisches, fast schon hoffnungsloses Bild des Hobos. Wie haben Sie die Menschen kennengelernt?

GAREIS: Hobos gibt es schon seit 150 Jahren. Während die Cowboys verschwunden sind, ziehen sie immer noch mit den Zügen illegal durch das Land. Ganz so hoffnungslos können sie also nicht sein. Ihr Welt ist tragisch-komisch. Aber sie sind stolz auf ihre Lebensweise, und wollen sich auch immer abgrenzen von den Obdachlosen an den Straßenecken. Sie sehen sich eher als Elite des sozialen Kellers.

Haben Sie die große Freiheit erlebt?

GAREIS: Ja, und diese Freiheit ist so radikal, dass sie auch wehtun kann, weil man eben fern von Gesetz und Sicherheit ist. Vielleicht ist es vergleichbar mit dem romantischen Bild, das wir vom Wilden Westen haben: diese ganzen offenen Landschaften, kaum Menschen. Gleichzeitig musst du aber, weil dir eben niemand helfen kann, die Dinge selbst in die Hand nehmen. Du musst ein starkes Individuum sein. Natürlich ist das Leben hart da draußen, aber dafür sind die Momente der Belohnung umso befriedigender, wie zum Beispiel ganz alleine mit dem Zug durch eine weite, unendliche Wüstenlandschaft zu fahren

Die Reise war nicht Ihre erste große Fahrt ins Ungewisse – woher kommt dieses Fernweh, die Abenteuerlust?

GAREIS: Ich hatte schon immer eine innere Unruhe. Ich bin in der Robert-Bunsen-Straße aufgewachsen. Da gab es viele Spanier, Italiener, Griechen, die im Sommer immer für sechs Wochen abgehauen sind. Das hat mich gefuchst, ich wollte auch weg.

Warum?

GAREIS: Es hat mir immer Spaß gemacht, Neues zu entdecken. Deswegen ist Reisen für mich nichts weniger als ein Lebenselixier. Vielleicht vor allem, weil man dabei immer wieder die Perspektive wechseln muss. Dafür gibt es ja den schönen Spruch: „Rolling stones gather no moss“ – „Wer rastet, der rostet“, auch im Kopf.

Was ist das für ein Amerika, das Sie auf der Reise mit den Hobos kennengelernt haben?

GAREIS: Das ist auf jeden Fall ein Amerika, wie es in den alten Büchern steht. Die Hobos besinnen sich auf die amerikanischen Tugenden des Individualismus und der Selbstbestimmung, aber auch auf das Misstrauen gegen jede Form von Regierung. Gleichzeitig sind sie geprägt durch die große Liebe zu einem Land, das in vielen Teilen atemberaubend ist.

Was fasziniert die Menschen dort besonders?

GAREIS: In den USA gibt es Bundesstaaten von der Größe Deutschlands, die aber nur einen Bruchteil unserer Bevölkerung haben. Dort kann man sich wunderbar in die Anonymität begeben. Und auch die Schönheit der Landschaft spielt bei diesen Streunern schon seit hundert Jahren eine tragende Rolle. In ihren Liedern, singen die Hobos davon, dass diese grandiosen Landschaften kranke Seelen heilen können.

Inwiefern hat Sie die Reise verändert? Was haben Sie für Ihren Alltag mitgenommen?

GAREIS: Die Hobos haben mir sehr deutlich vor Augen geführt, dass es keine Schande ist, nicht sesshaft zu sein. Wenn es einen immer wieder raus treibt, sollte man nicht dagegen ankämpfen. Dazu passt es ganz gut, wie die Hobos antimaterialistisch eingestellt zu sein. Bloß nichts anhäufen, damit man mobil bleiben kann.

Haben Sie schon Pläne für das nächste Abenteuer?

GAREIS: Das verrate ich noch nicht, sonst würde meine Mutter es ja hier zuerst erfahren (lacht). Aber es wird auf jeden Fall eine große Sache.

Sie sind in Rüsselsheim aufgewachsen – konnte man auch hier was fürs Leben lernen?

GAREIS: Im Dicken Busch musste ich mit vielen verschiedenen Leuten auszukommen. Ich hatte eine tolle Kindheit. Dass heute noch Kinder in Riesengruppen auf der Straße spielen oder Schnitzeljagden starten, sehe ich nicht mehr. In Rüsselsheim gab es an vielen Orten noch eine urbane Wildnis. Daran denke ich oft zurück.

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