1. Startseite
  2. Region
  3. Limburg-Weilburg
  4. Brechen

Ganz großes Theater

Erstellt:

Kommentare

Beeindruckender Auftritt: Carina Nadja Roth als Hexe, die sich nach ihrer Hinrichtung in das "Berkelwäsje" verwandelte.
Beeindruckender Auftritt: Carina Nadja Roth als Hexe, die sich nach ihrer Hinrichtung in das "Berkelwäsje" verwandelte. © amu

Dorfgeschichten aus 1250 Jahren

Brechen -Dreimal die Emstalhalle ausverkauft. "Dorfgeschichte(n)" hieß das Theaterstück, in dem das Leben in Nieder- und Oberbrechen aus 1250 Jahren im Zeitraffer ablief. Vorneweg: Eine grandiose Leistung aller Beteiligten, vor allen aber der aus Niederbrechen stammenden Theaterpädagogin Cara Basquitt, die Regie führte und in deren Händen die Gesamtleitung lag. 150 Menschen spielen Theater, singen im eigens für das Projekt gebildeten Theaterchor (Leitung Jutta Sode), musizieren im ebenfalls neu entstandenen Theaterorchester (Leitung Michael Steiner) oder tanzen zu Choreografien von Dorin Frank, Madeleine Gerlach und Olli Fachinger.

Etwa 50 weitere Menschen agieren unsichtbar hinter der Bühne. Ganz großes Kino, pardon, natürlich Theater. Nicht zu vergessen Kulisse und Kostüme. Hier hatten die Organisatoren mit der Verpflichtung der Kostüm- und Bühnenbildnerin Cosima Winter, seit der Spielzeit 2020/21 Kostümassistentin am Schauspiel Frankfurt, einen optimalen Griff getan. Mit ihrem Einfallsreichtum und ihren Ideen gelang es ihr, die sonst eher kahle Sporthalle in einen Theaterraum zu verwandeln, der Vergleiche mit professionellen Bühnen nicht zu scheuen brauchte.

Natürlich erfordert solch ein Projekt auch die passende Technik. Auch dafür wurde der richtige Mann gefunden. Der ebenfalls aus Niederbrechen stammende Andreas Kremer ist Bühnenmeister am Schauspiel Frankfurt. Alle Beteiligten kann man leider nicht erwähnen. Christof Königstein soll hier aber noch genannt werden, der in gewohnter Manier nicht nur als hervorragender Schauspieler den Tod darstellte, sondern auch als Redaktionsleiter des ZDF über die nötige Medienerfahrung verfügt und einige Texte zum Stück beisteuerte.

Die Idee für ein Theater über die Dorfgeschichte zum 1250-jährigen Dorfjubiläum ist vor vier Jahren entstanden. "Als ich vor vier Jahren gefragt wurde, ob ich das machen wolle, habe ich nicht geahnt, welche Dimension das annehmen würde", schildert Cara Basquitt in ihrer Begrüßung. Alles fing dann damit an, dass Mitglieder eines historischen Arbeitskreises Themen gesammelt haben. Diese reichen von der Gründung Nieder- und Oberbrechens über Hexenverbrennungen, jüdisches Leben in der Gemeinde, den Weltkriegen, Flüchtlinge aus dem Osten bis hin zur Liebesgeschichte von Romeo und Julia. Problem hierbei: Romeo kommt aus Niederbrechen, Julia aus dem ungeliebten Nachbarort Oberbrechen. Das durfte nicht sein. Eine Story, die bis hinein in die 1970er Jahre gar nicht an den Haaren herbeigezogen war. Geändert hat sich das vielleicht etwas mit der Zusammenlegung von Nieder- und Oberbrechen mit Werschau zur Verbandsgemeinde Brechen.

So mag eine Vermutung erlaubt sein: So viel wie Menschen allen Alters aus den beiden Ortsteilen, aber auch Menschen aus unterschiedlichen Vereinen, Orchestern und Chören, für dieses Theaterprojekt miteinander zu tun hatten, gab es in 1250 Jahren Dorfgeschichte wohl nie zuvor.

Geschachere zwischen Kirche und Welt

Cara Basquitt ließ ihre Inszenierung mit der Schenkung von Brachina im Jahr 772 an das Kloster Lorsch beginnen, schilderte den Deal zwischen Konrad Kurzbold und König Ludwig IV, wonach zum Seelenheil des Königs in Limburg eine Stiftskirche und später ein Bischofsdom gebaut wurde. Kurzbolds Gebeine ruhen heute noch im Dom zu Limburg. Eine wunderbare Idee, das ständige Geschachere zwischen Kirche und Welt mittels eines Schachspieles darzustellen.

Beliebten Fernseh-Quizshows nachempfunden folgte die Verleihung der Stadtrechte, bei der bei Kenntnis der richtigen Antwort auf eine Frage ein "Buzzer" gedrückt werden musste. Zwischen den einzelnen Szenen sorgten Gerhard Stillger als "Leben" und Christof Königstein als "Tod" immer wieder mit gesungenen Dialogen für eine Überleitung. Oberhand hatte der Tod in den Jahren der Pest. Schon damals versuchten die Menschen, mit dem Tragen von Masken eine Übertragung zu verhindern, musikalisch gestaltet von fetziger Orchestermusik mit viel Perkussion.

Sehr anschaulich inszeniert dann die Zeit der Hexenverbrennungen mit dem Querverweis auf die Sage des "Berkelwäsje", einer Frau, die als Hexe verbrannt wurde und dann in den Nachtstunden im Wald ihr Unwesen trieb. Hierzu erklang sehr passend "Carmina Burana". Carina Nadja Roth als "Berkelwäsje" appellierte schließlich an die Männer im Jahr 2022, das "Nein" einer Frau auch als "Nein" zu akzeptieren. Sie formulierte in ihrer Rolle ein aufrüttelndes Statement zur Gleichbehandlung und Gleichberechtigung der Frau in der heutigen Gesellschaft.

Auch die Dorfsagen vom "Klopfmännchen" und dem "Rathausmann" wurden dargestellt. Unter die Haut gingen nicht nur die Szenen aus den beiden Weltkriegen, sondern auch die Erinnerung an jüdisches Leben und die NS-Zeit. Nach 1942 gab es kein jüdisches Leben mehr in Oberbrechen, alle waren geflohen oder ermordet. Die Ankunft von Heimatvertriebenen 1946 aus dem Osten zeigte durchaus Parallelen zu den Geflüchteten aus Ländern wie Syrien, Eritrea oder Afghanistan etwa ab dem Jahr 2015 auf.

Deutlich wurde, dass es ohne Einwanderer weder die Kartoffel, leckere Gerichte, die vorher nicht auf deutschen Speisekarten standen, noch Blaskapellen geben würde. Der Abba-Hit "Take A Chance On Me" leitete über in die bereits beschriebene Schlussszene mit der Liebesgeschichte zwischen Romeo und Julia.

"Wir haben heute nicht nur 1250 Jahre Dorfgeschichte erlebt, sondern ihr habt heute Dorfgeschichte geschrieben", bedankte sich der sichtlich gerührte Bürgermeister Frank Groos bei allen Beteiligten. "Ich bin sehr stolz auf dieses Mammut-Projekt", so Groos weiter. Nicht enden wollender Applaus, stehende Ovationen und ganz zum Schluss ein eigens getextetes "Brechen-Lied" auf die Melodie des Beatles-Hits "Yellow Submarine" beendeten einen ganz außergewöhnlichen Abend. andreas e. müller

Auch interessant

Kommentare