Schulen in Zeiten von Corona: Eltern in der Zwickmühle, Virologe warnt

Zahlreiche Schüler in Hessen nehmen trotz Corona am Präsenzunterricht teil, darunter 4000 im Kreis Limburg-Weilburg. Aus Sicht eines Virologen ist auch das zu viel.
- In Hessens Schulen gibt es eine Kombination aus Distanz- und Präsenzunterricht.
- Die Eltern von jungen Schülern müssen entscheiden, ob sie ihre Kinder in die Schule schicken
- Ein Virologe warnt vor Infektionsmöglichkeiten, besonders in Hotspots wie dem Kreis Limburg-Weilburg.
Limburg – Seit Montag (11.01.2021) gehen die Kinder wieder in die Schule. Alle? Nein, nicht alle. Das Land Hessen hat festgelegt, dass es, anders als beim ersten Schul-Lockdown, keine Unterscheidung nach systemrelevanten Gruppen gibt, also Eltern aus Ärzteschaft, Polizei, Pflegepersonal ..., die ihre Kinder zur Betreuung schicken dürfen. Dieses Mal geht der Appell an alle: Nach Möglichkeit sollen die Kinder und Jugendlichen zu Hause unterrichtet werden.
Im Kreis Limburg-Weilburg ist das dem Erlass des Kultusministeriums entsprechend so geregelt: Der Präsenzunterricht in den Jahrgangsstufen eins bis sechs wird zunächst ausgesetzt, jedoch ist die Betreuung in der Schule möglich. Ab der Jahrgangsstufe sieben gibt es generellen Distanzunterricht. Die Abschlussklassen gehen zur Schule. Lerngruppen werden auf unterschiedliche Räume aufgeteilt, wenn ein vergleichbarer Lernerfolg sichergestellt wird, kann der Präsenzunterricht durch Distanzunterricht ersetzt werden. Also ein Übergang ins Wechselmodell wie schon vor Weihnachten.
Trotz Distanzunterricht für ältere Schüler in Hessen: Mutter will Tagesabläufe erhalten
"Ich bin sehr froh, dass ich zwei meiner Kinder zur Schule schicken darf", sagt Kevy Ellen Erlach. Die Erbacherin ist alleinerziehend, hat drei Kinder. Ihre beiden Jüngsten besuchen die Grundschule, die Atzelschule in Bad Camberg, ihr Ältester die Taunusschule, zurzeit im Distanzunterricht. "Das läuft gut", sagt die Mutter. Manchmal möchte der große Bruder länger schlafen. "Ich muss ja nicht mehr in die Schule", sagt er. Doch sie weckt ihn gemeinsam mit den beiden jüngeren Geschwistern. Die Abläufe sollen bleiben. Nicht nur, weil sie im Homeoffice arbeitet, sondern auch, damit die Kinder ihre Routinen behalten. Sie hat festgestellt: Der Distanzunterricht im Gymnasium funktioniere im allgemeinen gut.
Der Vater eines befreundeten Schulkinds sieht eines ganz anders: Er habe sie schon gefragt, ob es angesichts der Pandemielage nicht verantwortungslos sei, Kinder in die Schule zu schicken. "Doch ich wüsste nicht, wie ich es sonst machen sollte", sagt die junge Mutter.
Virologe zu Schulen in der Corona-Zeit: Zu viele Schüler in Hessen im Präsenzunterricht
Dirk Fredl, Sprecher des Staatlichen Schulamts für die Kreise Limburg-Weilburg und Lahn-Dill nennt Zahlen: Bis Stand Freitagnachmittag waren an den Schulen in Trägerschaft des Landkreises Limburg-Weilburg für den Präsenzbetrieb in den Jahrgangsstufen eins bis vier 15,3 Prozent der Schüler angemeldet (943 von 6161), für den Präsenzbetrieb in den Jahrgangsstufen fünf und sechs 5,7 Prozent (162 von 2866). Tatsächlich anwesend waren am Dienstag, 14,7 Prozent in den Klassen eins bis sechs der Schulen in Trägerschaft des Landkreises Limburg-Weilburg. Hinzu kommen die Abschlussklassen mit rund 1000 Schülern an den allgemeinbildenden und rund 2000 an den beruflichen Schulen in Trägerschaft des Landkreises.
"Viel zu viele", sagt Ralf Hilfrich. Der Heringer ist Virologe, hat selbst einen schulpflichtigen Sohn in der zwölften Klasse, also im Distanzunterricht. Er bekommt mit, dass die Schulbusse und Klassenräume leerer sind. Kevy Ellen Erlach berichtet von manchmal zwei oder drei Kindern, die in einem Raum unterrichtet werden. Traumhafte Gegebenheiten zum Lernen. Die Zahlen könnten steigen, wenn Eltern, die gerade ihren Urlaub verlängert haben, wieder arbeiten gehen, oder andere feststellen, dass es noch "Luft nach oben" gibt. Der Virologe Hilfrich sieht diese Luft nicht. Im Gegenteil: Die Entscheidung, bei einer wochenlangen Inzidenz von über 200 im Kreis Limburg-Weilburg so viele Schüler hin und her pendeln zu lassen, sei der allergrößte Fehler. Sein Rechenbeispiel: "Wenn jeder Schüler nur 20 Kontakte mit seinen Klassenkameraden und Lehrern pro Tag hat, dann bieten wir dem Virus im Kreis Limburg-Weilburg bei nur 5000 Schülern zusätzlich mindestens 100 000 Möglichkeiten pro Tag, sich weiter auszubreiten. Man glaubt es kaum, wenn wir auf der anderen Seite unsere persönlichen Kontakte weiter einschränken sollen, was eine wirklich wichtige und richtige Maßnahme ist."
Schulunterricht trotz Corona in Hessen: Virologe hofft auf Handeln im Hotspot Limburg-Weilburg
Wer diese Entscheidung zu verantworten habe, ob Kultusministerium, Schulamt oder Landrat, sei ihm unklar, sagt Hilfrich. "Ich hoffe, dass Landrat Michael Köberle hier aktiv werden kann, um diesen Fehler im Hotspot Limburg-Weilburg zu korrigieren. Das Virus wird uns die damit geschaffenen Übertragungs- und Ausbreitungsmöglichkeiten sicherlich nicht danken. Die Aussage der Bundeskanzlerin ,Die schlimmsten Monate stehen uns noch bevor', sollten wir ebenfalls ernst nehmen und nicht durch solche Entscheidungen noch verschlimmern." Der Druck des Kultusministeriums sei sicher extrem hoch: "Es können keinerlei Abstriche beim Prüfungsumfang der Abschlussklassen gemacht werden. Auf Gedeih und Verderb und ohne Rücksicht auf Verluste müssen die Schüler daher in die Schule. Statt über das letzte Jahr hinweg dafür Sorge zu tragen, dass die Schulen auf die Infektionswelle im Winter vorbereitet sind, versucht man das eigene Versagen in eine angebliche Fürsorge des Kultusministers für seine Schüler umzumünzen." Wie viele Menschen dadurch sterben müssten, bleibe abzuwarten. "Man kann nur hoffen, dass sich Politiker finden, die gemeinsam versuchen gegen dieses Fehlverhalten anzukämpfen. Ansonsten werden uns die Inzidenzwerte im Kreis von über 200 und daraus resultierende Todesfälle noch lange begleiten", prognostiziert Hilfrich.
Für ihn persönlich ist die Sache klar: Am liebsten ein harter Lockdown über vielleicht fünf Wochen, alles schließen, auch die Schulen, und so viel wie möglich testen. Doch das ist seine private Meinung. "Ich kann auch die Eltern verstehen, die eine Betreuung für ihre Kinder brauchen", sagt Björn Jung. Er ist Vorsitzender des Kreiselternbeirats und hat sich in den vergangenen Tagen einiges angehört. Eltern berichten vom Homeschooling, das teils aus technischen Gründen noch immer nicht funktioniert, andernorts fehlt Ausstattung oder WLAN. Die Frage, Unterricht zu Hause oder in der Schule beantwortet er angesichts der Pandemielage im Hotspot Limburg-Weilburg so: Man könne es nur falsch machen. "Man kann hier nicht richtig entscheiden."
Corona in Schulen: Ein Abwägen von Betreuung und Infektionsschutz
Die Zwickmühle bleibt, auch nach Monaten des Lebens im Ausnahmezustand. Deutlich werde: "Der überwiegende Teil der Eltern möchte sehr vorsichtig sein." Gleichzeitig stoße die Fernbetreuung auch an Grenzen. Für seine Kinder, 13 und 15 Jahre alt, stellt er fest: "Sie haben im Klassenverband mehr Kontakt als vorher, nur eben virtuell. Früher wurde der Sitznachbar gefragt, jetzt werden Aufgaben im klasseninternen Co-Working gelöst." Das sei ein klarer Vorteil. Insgesamt sei die Zufriedenheit der Eltern sehr hoch. Aber es gebe auch die andere Situation: Schüler, die im Präsenzunterricht deutlich bessere Ergebnisse erzielten und denen es schwerfällt, sich zu Hause zu organisieren und zu motivieren.
Björn Jung ist sicher: Die Schülerzahlen werden wieder steigen, wenn sich der Druck auf die Eltern in den nächsten Wochen erhöhe, auch weil die berufliche Belastung mit Homeschooling nebenbei stärker werde. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe sich klar für eine Schließung der Schulen ausgesprochen, die 16 Bundesländer hätten jedes für sich wieder eine eigene Lösung präferiert. "Das Hessische Kultusministerium hat mit seiner Entscheidung den Druck auf die Eltern abgeladen", sagt Jung. Genau das findet er nicht gut. Er nennt es "organisierte Verantwortungsverschiebung".
Schulunterricht trotz Corona in Hessen: Technische Probleme erschweren Distanzunterricht
Hinzu kämen die Probleme beim Homeschooling. Das hessische Schulportal habe keine Videokonferenzen implementiert. Dies werde von den Schulen vor Ort gelöst, beispielsweise durch die Nutzung von IServ. Die Grundschule in Weinbach zum Beispiel hat dies auf eigene Kosten eingerichtet. "Die Schulen organisieren sich hier selbst, müssen auch die Kosten tragen, teilweise unterstützt von den Fördervereinen", kritisiert Jung. Das sei im Lahn-Dill-Kreis ganz anders. "Dort wird IServ vom Schulträger, dem Landkreis, finanziert." Ihm fallen noch viele weitere Punkte ein, die sich ändern müssten. Den frustrierten Eltern auch vom Norden bis zum Süden des Kreisgebiets. Lob gibt es für den frühen Einstieg ins Wechselmodell schon vor Monaten als Vorreiter im Land Hessen, Kritik an der technischen Ausstattung.
Wie Schulamtssprecher Dirk Fredl berichtet, seien die Kapazitäten fürs Homeschooling erhöht worden. Dennoch: Carola Heuser aus Würges klagt über noch immer nicht funktionierenden Fernunterricht mit zwei Kindern, weil das System häufig abstürze. Für bessere Ausstattung habe sie selbst gesorgt ("Wir haben mittlerweile drei Drucker"). Eine Mutter aus Steinbach berichtet, dass ihr Erstklässler nun nach Hadamar zur Betreuung müsse. Dort würden also wieder Klassen gemischt. Sie ergänzt: In der Hadamarer Schule gebe es kein ausreichend funktionstüchtiges WLAN. Was ein Schreiben der Herzenbergschule bestätigt, das die Eltern in der vergangenen Woche zur Vorbereitung auf den Schulstart nach den Weihnachtsferien bekommen haben: "Da unsere Schule nicht über eine ausreichende WLAN-Verbindung verfügt, werden alle Klassenlehrer von zu Hause aus arbeiten und dort dann für Sie und Ihre Kinder erreichbar sein. Wie genau der Distanzunterricht stattfinden wird, darüber informiert Sie jede Lehrkraft noch persönlich." (Petra Hackert)