"Das ist kein Job, den man halbherzig macht"

Joachim Heidersdorf hat fast 20 Jahre als Redaktionsleiter die Nassauische Neue Presse geprägt. Die Tage bis zum Ruhestand hat er nicht gezählt, immer gern gearbeitet. Jetzt übergibt er den Staffelstab an Sebastian Semrau.
Limburg - Das Büro ist fast leer. Obwohl: Gut aufgeräumt war es eigentlich immer. Nur ein paar Fotos von seiner Frau Ulrike und Sohn Max hängen noch an der Wand neben dem Schreibtisch. Er ist stolz auf seine Familie, und ein kleines Stück davon war immer in seiner zweiten Heimat in Limburg, auch noch an seinem letzten Arbeitstag.
Joachim Heidersdorf, der vor knapp 20 Jahren die Leitung der NNP-Redaktion am Neumarkt übernahm, ist die Domstadt schnell ans Herz gewachsen. "Ich habe mich nach kurzer Zeit als Limburger gefühlt", sagt er. "Der Menschenschlag passt zu mir."
Joachim Heidersdorf hat die NNP geprägt, viel verändert und sich mehr als nur im Blatt eingebracht. Bei den Diskussionsforen zu den Bürgermeisterwahlen stand er von Anfang an als Moderator an vorderster Front, wurde so zum Gesicht der Zeitung auch in der Öffentlichkeit. Sein wichtigstes Anliegen umreißt er so: die Zeitung konsequent nach den Lesern auszurichten und zum Sprachrohr der Region zu machen. Er bot sich und die Redakteure stärker als Ansprechpartner an, zum Beispiel durch das Lesertelefon. Sein Credo: "Leser und Kunden habe ich nicht als Bittsteller, sondern als Arbeitgeber empfunden."
Den Redaktionskollegen hat er als Chef Freiräume gelassen, immer Wert auf einen Austausch der Argumente und Meinungen gelegt. "Pro und contra" - diese Rubrik gab es vor seiner Zeit dort nicht und findet auch heute nicht allzu oft ihren Platz. Dies, weil manche nicht verstehen, dass es einen Unterschied zwischen Personen und Argumenten gibt. Es geht um die Inhalte.
Eine seiner Stärken: Er ließ es menscheln im Blatt, legte Wert darauf, die Dinge persönlicher zu präsentieren, den ein oder anderen Blick ins Private von örtlichen Prominenten und den Redakteuren zu offenbaren. Heidersdorf ist ein exzellenter Netzwerker, hatte in kürzester Zeit eine Vielzahl von Kontakten geknüpft und kann sie halten. "Mir ist klar, dass viele Bindungen nicht bleiben werden", sagt der Mann, der zum Jahresende ins Privatleben wechselt. Der nächste Lebensabschnitt.
Die Themen selbst angepackt
Wirtschaft, Politik, Kirche, Gericht, Polizei und Gesundheitswesen - Joachim Heidersdorf packte die Themen selbst an und legte sich dabei auch mit guten Freunden quer.
1982 Lokalchef in Dillenburg, 1986 bis 2001 Redaktionsleiter bei der Zeitungsgruppe Lahn-Dill, die letzten Jahre in Wetzlar, dann die NNP: Die Jahre haben ihn geformt. Der Mann, der als Jugendlicher bei allen Schülerstreiks in der ersten Reihe stand, die Jusos für sich entdeckte, sieht sich heute im liberal-konservativen Lager. Obwohl: Lagerdenken kann er überwinden. Das funktioniert nicht immer so gut wie mit dem verstorbenen Manfred Birko (SPD) und dem langjährigen Landtagsabgeordneten Helmut Peuser (CDU), zwei sehr gegensätzlichen engen Freunden. Die drei haben oft heftig diskutiert - und anschließend auch wieder gemeinsam gefeiert.
Die Menschheit verändert sich. Die digitalen Medien tun das ihre dazu, was sich im Redaktionsalltag niederschlägt. "Viele tolerieren nicht, was nicht ins eigene Weltbild passt, sind nicht mehr bereit, eine andere Meinung zu akzeptieren. Diese Tendenz, die seit Jahren zunimmt, stört mich gewaltig", stellt er fest.
Als Redaktionsleiter hätte er eigentlich weniger schreiben sollen. "Doch diese Kür wollte ich mir nicht nehmen lassen", betont er. Journalismus ist mehr als ein Beruf, es ist eine Leidenschaft. Stolz ist er auf seine Portraits und Kommentare. Worauf besonders? Auf diese Frage überlegt er kurz, zuckt mit den Achseln, öffnet die Tür des Büroschranks und zeigt selbstbewusst auf einen großen Stapel einzelner Seiten, die er sich aufgehoben hat.
Viele über die drei Bischöfe, die den Protestanten stark beschäftigt haben. Franz-Peter Tebartz-van Elst am meisten. Joachim Heidersdorf besuchte ihn unmittelbar nach der Ernennung in Münster, berichtete über den Finanzskandal und harrte buchstäblich bis zum bitteren Ende stundenlang beim Auszug auf dem Domberg aus. Als Insider war er weltweit gefragt; CNN interviewte ihn live und auch die New York Times bat um seine Einschätzung. Dabei hatte er Tebartz-van Elst anfangs verteidigt. "Ich war einer von zwei Journalisten, denen er vertraute, und der einzige, dem er seine Wohnung gezeigt hat. Wie sich später herausstellte, aber nur die eine Hälfte", erinnert er sich. Eine einschneidende Erfahrung im schon fortgeschrittenen Berufsleben: "Dass ein Bischof einen halben Meter vor dir steht, dir tief in die Augen schaut und dich glatt belügt, habe ich nicht für möglich gehalten."
Doch die schönen Dinge überwiegen; im Zusammenhang mit der Kirche und überhaupt. Die gesellschaftlichen Ereignisse und Empfänge etwa hat der Lokalchef nie als Pflichttermine verbucht, sondern gern besucht. Er hat viele Veranstaltungen und Aktionen moderiert und organisiert; vom Halt des ersten ICE in Limburg bis zum nun durch die Pandemie leider abgesagten 25. Leberecht-Benefizkonzert am ersten Advent. Im Beirat der Leberecht-Stiftung hat er sich gerne engagiert, aber auch in anderen Ehrenämtern in der Region; unter anderem im Beirat der Gedenkstätte Hadamar, in der Musikstiftung der Kreissparkasse und bei den Rotariern, deren Präsident er vor zehn Jahren war.
Es wird schwer, nun loszulassen. "Das ist kein Job, den man halbherzig macht", sagt der 64-Jährige. Deshalb hatte er die NNP auch so intensiv verteidigt, als die Umstrukturierungen mit dem Ziel, die Zeitung besser zu machen, vor drei Jahren das Gegenteil bewirkten. "Wir sind hier anders", kommunizierte er in die Frankfurter Chefetage. Viele seiner Ratschläge haben sich im Nachhinein als richtig erwiesen. Das tut ihm gut, auch zum Abschied.
Vielleicht wird man ihn mit seiner Frau das ein oder andere Mal auf dem E-Bike an der Lahn sehen. Ganz sicher wieder in der Stadt und beim ein oder anderen Ereignis. Das hat er sich vorgenommen. Den Staffelstab gibt er weiter an den neuen Redaktionsleiter Sebastian Semrau, die Verbundenheit zu "seiner" Zeitung wird bleiben, ist er sicher. (Petra Hackert)