"In der Kommunalpolitik wird die Musik gespielt"

Große Bedeutung, geringes Interesse: Wie Lokalpolitiker Bürger wieder für ihr Tun begeistern können und warum dies auch im Landkreis Limburg-Weilburg so wichtig ist.
Limburg -Björn Egner, Politikwissenschaftler an der TU Darmstadt, hat gleichsam am offenen Herzen der Kommunalpolitik geforscht. Er kennt die Besonderheiten von Lokalpolitik aus dem Effeff, auch deren besondere Chancen, und ist ein Kommunalpolitik-Erklärer par excellence. Zum Auftakt der neuen Serie "Hier fallen die Entscheidungen - Kommunalpolitik richtig gut erklärt" hat Sylvia A. Menzdorf mit ihm gesprochen.
Herr Egner, ist Kommunalpolitik sexy?
Wenn sexy gleichbedeutend ist mit hochangesehen und spannend, muss ich sagen: oft leider nein. Wenn es wichtig bedeutet, antworte ich mit einem klaren Ja. Kommunalpolitik ist die wichtigste Ebene und Form der Gestaltung der elementaren Bedürfnisse unserer Gesellschaft.
Warum ist die Mehrheit der Wähler so uninteressiert an Kommunalpolitik? Die Wahlbeteiligung ist regelmäßig dramatisch schlecht.
Wäre ich zynisch, würde ich sagen: Dann ist die Mehrheit wohl zufrieden mit ihren Kommunalpolitikern und deren Arbeit. Bin ich aber nicht. Aus Untersuchungen ist bekannt, dass Landtags- und Bundestagswahlen in der öffentlichen Wahrnehmung eine weitaus größere Rolle spielen. Bund und Länder drehen politisch das große Rad. Sie weisen Kommunen und Landkreisen Mittel und Aufgaben zu. Tatsache ist: Ab da wird es aber eigentlich richtig interessant. Ab da wird die Musik gespielt, auf der kommunalen Ebene nämlich: Werden die übertragenen Aufgaben wahrgenommen - und wenn ja, wie? Wie gestalten kommunale Entscheidungsträger diese Aufgaben aus, wie beteiligen sie die Bürger und wie geben sie öffentliche Zuschüsse aus? Da wird Politik erlebbar. Wähler sollten die Möglichkeit, das Personal für diese Aufgaben vor ihrer Haustür per Wahlvotum auszusuchen, unbedingt wahrnehmen.
Kommunalpolitik haftet ja oft das Image hausbackener Behäbigkeit an. Oft ist eher abfällig von "Kirchturmpolitik" die Rede. Nur auf dem Land oder auch in Großstädten?
Politik in Städten ist keineswegs grundsätzlich spannender und weniger schwerfällig als auf dem Land. Es gibt total verschlafene Großstädte, nehmen wir mal die Landeshauptstadt Hannover als Beispiel, wo Kommunalpolitik eher langweilig ist. Ganz anderes Bild in Stuttgart: Beim Verkehrsprojekt Stuttgart 21 etwa haben Bürger sich aktiv und selbstbestimmt eingemischt, haben Mitsprache eingefordert. Relevante Aspekte des Großprojekts wurden öffentlich abgewogen. Kommunalpolitik kann wahnsinnig anstrengend sein. Aber sie ist offen für die unmittelbare Mitsprache der Bürger. Das gilt für ländliche Regionen nicht anders. Der Ausbau eines Radweges, einer Kita, einer Umgehungsstraße kann ähnlich bedeutend für die Region, ähnlich anstrengend und überaus erfolgreich sein.
Wie könnten Kommunalpolitiker Wähler für ihre Arbeit begeistern und ist das überhaupt wichtig?
Begeisterung ist vielleicht die falsche Kategorie. Ein solides, nachhaltiges Interesse der Wähler wäre gut und für viele Kommunalpolitiker bestimmt wichtig. Ganz oft fehlt ihnen der Rückkanal. In kleinen Kommunen ist das oft anders. Da trifft man den Bürgermeister oder den Bauausschussvorsitzenden mal beim Einkaufen und spricht ihn direkt an. Das passiert in Großstädten oder auf Kreisebene so eher nicht. Da kennen ganz viele Bürger das politische Personal unterhalb der Ebene von Oberbürgermeister und hauptberuflichen Dezernenten gar nicht. Wichtig für eine lebendige Gestaltung der Politik ist das gegenseitige Interesse aneinander: Der Bürger an den mehrheitlich ehrenamtlich tätigen Politikern - und umgekehrt.
Kommunalpolitikern könnte ein weitgehend hermetischer Betrieb, in dem sie unter sich sind und der Wähler nicht mit Einmischung stört, ja durchaus recht sein. Den Wählern vielleicht auch, weil sich ja die gewählten Parteienvertreter schon kümmern....
Kann man so machen: alle fünf Jahre wählen gehen oder es lassen, und das war's dann. Das ist legitim. Ob das eine gute Grundeinstellung ist, kann man diskutieren. Wer darauf verzichtet, wenigstens mit lebendigem Interesse an der Gestaltung gesellschaftlicher Belange in seiner unmittelbaren Umgebung teilzunehmen, sollte sich dann aber nicht beschweren über angebliche oder tatsächliche Versäumnisse. Und auch nicht über den entrückt erscheinenden politischen Betrieb. Der ist nämlich oft Folge des Desinteresses der Bürger.
Wir reden und hören oft von Politikverdrossenheit. Was ist das eigentlich?
Das hat verschiedene Dimensionen. Zum einen wird damit eine Überforderung derjenigen beschrieben, denen die Masse täglicher Informationen über den Kopf wächst, die Widersprüchlichkeiten nicht einordnen können oder wollen und die an den Antworten darauf scheitern. Auch diejenigen, die den Mut verloren, dass Politik nutzbringend für ihr Leben sein könnte, werden den Politikverdrossenen zugerechnet. Diese Gruppe ist aber nicht verloren. Gerade Kommunalpolitiker könnten diese wieder zurückholen, etwa durch Beteiligungsangebote, über echtes Interesse. Leider geschieht das viel zu selten. Stattdessen wird geklagt über die Verdrossenheit.
Wie können Politiker Verdrossene zurückgewinnen?
Indem sie Bedingungen schaffen, mit denen Bürger in Beteiligungsprozesse eingebunden werden. Das hat den zusätzlich belebenden Effekt, dass verstetigte Milieus aufgebrochen und belebt werden.
Das müssen Sie uns bitte erklären.
In der weitgehend von Ehrenamtlichen getragenen Kommunalpolitik trifft man häufig die Vertreter gewisser Berufsgruppen an: Lehrer, Oberstudienräte, Juristen und so weiter. Wenn sich daran kaum etwas ändert, verstetigt das Milieus und Beschlussfindungsprozesse. Natürlich wissen wir alle, wie wahnsinnig schwer es ist, überhaupt Personal für die Kommunalpolitik zu rekrutieren. Je offener die Beteiligungsbedingungen sind, desto interessanter könnte es werden für grundsätzlich Interessierte. Bewährtes Verfahren ist die sogenannte Planungszelle. Das ist eine Gruppe von vielleicht 25 zufällig ausgewählten Personen, die für kurze Zeit, vielleicht eine Woche, von ihren beruflichen Verpflichtungen freigestellt werden, um mitzuarbeiten an Lösungsvorschlägen für ein konkretes Projekt in der Kommune. Die Vorschläge werden anschließend in Kleingruppen beraten. Das hört sich alles ungeheuer mühsam an, ist es gelegentlich auch. Aber wer da einmal mitgemacht hat, der macht die Erfahrung: Ich kann etwas bewegen, ich habe den Unterschied gemacht. Mit solchen Erfahrungen sind Menschen auch dauerhaft für Kommunalpolitik zu gewinnen.
Welche Rolle spielt Wahlkampf in der Kommunalpolitik?
Wahlkampfaktivitäten richten sich in erster Linie an den Wähler, auch wenn sich die Konkurrenten oft in Kämpfen untereinander aufzureiben scheinen. Er gibt alle fünf Jahre Politikern die Chance, sich dem Wähler zu empfehlen - mit erbrachten oder gefühlten Erfolgen oder als Alternative zum bisherigen Personal. Die Chance für Kommunalpolitiker ist, lokale Themen anzusprechen, die für Wähler wichtig und nachvollziehbar sind und sie so zu motivieren, zur Wahl zu gehen. Wir wissen, dass Kommunalwahlen von rund 15 Prozent der Wähler genutzt werden, um ihrer Unzufriedenheit über Landes- oder Bundespolitik ein Ventil zu geben, um "den Großen da oben" eins auszuwischen. Wenn dann noch der Anteil der Nichtwähler groß ist, kommt es zu verzerrten Gewichtungen. Kommunalpolitiker, die es schaffen, auf Probleme vor Ort zu reagieren unabhängig von der Linie der Partei, der sie angehören, sind seltener Angriffsfläche solcher Protestwähler.
Da haben Sie sicher ein Beispiel.
Ein Beispiel aus Darmstadt. Die Grünen haben vor der Landtagswahl landesweit plakatiert: für mehr Umwelt, für mehr Grün in Stadt und Land, für Artenvielfalt und so weiter. In den Kommunalwahlkampf gehen die Grünen in Darmstadt, wo extreme Wohnungsknappheit herrscht, mit dem Thema Wohnungsbau. "Jetzt wird gebaut" haben sie zu ihrem lokalen Thema gemacht.
Wahlkampf als Schaulaufen um die Wählergunst ist in Corona-Zeiten kaum möglich.
Plakatwerbung ist ja unabhängig von persönlicher Präsenz der Kandidaten. Aber die Kür - das Überreichen von Rosen auf der Straße oder vor dem Supermarkt, die Diskussion am Stand auf dem Marktplatz - fällt aus. Das muss nicht unbedingt ein Mangel sein. Jetzt ist Kreativität gefordert, weil die alten Wahlkampf-Rituale gerade nicht funktionieren. Wer sich damit begnügt, Videos auf Facebook zu posten, wird sich nur innerhalb seiner eigenen Filterblase bewegen und die breite Wählerschaft nicht erreichen. Jetzt werden eigentlich ganz unfreiwillig die Karten noch mal neu gemischt. Forscher werden das, was in den nächsten Wochen passiert, mit großem Interesse beobachten und analysieren.
Welche Rolle spielen Lokalzeitungen in der Kommunalpolitik?
Eine große. Für die Kommunalpolitiker sind Lokalzeitungen wichtig, weil überregionale Medien sich nur im Ausnahmefall dafür interessieren, was sie gerade beraten, beschließen oder unterlassen. Für interessierte Bürger sind Lokalzeitungen unverzichtbar, weil sie dort weitgehend unabhängige Berichterstattung über politische Vorgänge, Zusammenhänge und Hintergründe vorfinden - und außerdem ein Forum, auf dem sie sich selbst aktiv zu Wort melden können. Wer sich vorwiegend oder ausschließlich Informationen in den sozialen Netzwerken beschafft, erfasst lokale Themen, Problematiken und die eingebundenen Akteure bestenfalls ausschnitthaft. Für die Teilnahme an Debatten und die qualifizierte Fähigkeit, Prozesse vor Ort nachvollziehen oder konstruktiv kritisieren zu können, reicht das erfahrungsgemäß nicht aus.